Das erste, das wir erreichen müssten, ist also das Erwachen im Denken, um imstande zu sein, zu sehen, was die Engel in unserer Seele tun – und so zu verhindern, dass wir instinktive ‚Teufel’ werden. Doch das Entwickeln einer neuen Art, zu denken, ist nicht genug. Das Vermögen, zu fühlen, muss ebenfalls durch eine energische Selbsterziehung erzogen werden.
Im Leben des Alltags kommen Gefühle in uns auf, ohne dass wir in deren Hervorbringen bewusst aktiv sind. In unseren Gefühlen sind wir ein leidender Gegenstand, sie werden in uns geboren, obwohl sie doch auch als subjektiv erlebt werden – und das sind sie auch. Durch die Gefühle beziehen wir alles auf uns selbst. Aber sie überkommen uns, wir bringen sie nicht selbst hervor.
Das ist nun genau das, was wir in der Zukunft entwickeln werden müssen: Nur dasjenige zu fühlen, was wir selbst fühlen wollen. Eine Art Wahl aus der Palette möglicher Gefühle werden wir lernen müssen, sodass wir zum Beispiel nie mehr deprimiert sein werden. Eine Form von Energie muss in unsere Gefühle kommen. Das bedeutet nicht, dass wir nie mehr betrübt wären, doch was wir nie mehr wären, das ist: betrübt über uns selbst. Die Depression aus Selbstmitleid wäre überwunden. Auf der anderen Seite würden wir auch nicht unkontrolliert vor Freude außer Rand und Band geraten, wir würden wissen, wie diese Freunde in der Hand behalten werden kann, sodass sie auch wirklich freudevoll bleibt.
Um dies zu erreichen, müssen wir unser Wissen in Bezug auf das aufbauende Fühlen vertiefen. Es ist ein mystisches Sich-Vertiefen in die wunderbare Welt des Gefühls.
Der moderne Mensch hat dieses Wissen ganz verloren, er weiß nur noch etwas über zwei Arten von Gefühlen: Sympathie und Antipathie, oder Freude und Traurigkeit, oder Lust und Unlust. Das sind alles subjektive Gefühle, die uns überkommen, während wir ein Objekt dieser Gefühle sind.
Doch es gibt eine ganze Welt von Gefühlen, die zu der Polarität von Sympathie und Antipathie gehören und die wir studieren können, indem wir sie mystisch zu empfinden lernen. Wir müssen ein Vermögen dafür entwickeln, diese Gefühle zu verstärken, sie zu übertreiben, während wir sie jedoch völlig in der Hand haben. Denn wenn wir versuchen, die Gefühle zu fassen, scheinen sie immer vage zu sein, nicht so wohlumgrenzt wie ein Gedanke. Sind wir aber einmal in einem aktiven Denken wach geworden, das völlig frei von uns selbst ausgeht, dann können wir auch die Gefühle fassen und sie zum Reifen bringen.
In der Zeit des deutschen Idealismus, am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, erreichte dieses Vermögen, die Idee zum Ideal wachsen zu lassen, einen Höhepunkt. Der Idealismus metamorphosierte sich in Romantizismus – und in dessen reiner Form finden wir genau das, was wir brauchen, um ein
‚Meister im Gefühl’ zu werden.
Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.Diese Sätze stammen von dem Dichter Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772 -1801), der als Dichter ein Meister im Romantisieren ist.
Wir können auch erhabene Gefühle als Stoff für die Meditation nehmen – wie Verwunderung und Hingabe.
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Ein Objekt, um die Gefühle der Verwunderung zu üben.
Aktives Fühlen Von Mieke Mosmuller