Es ist wunderbar, zu erleben, wie eine spirituelle Lehre, die Teil der Gestaltung der Spiritualität des Abendlandes war, zu einer feststehenden Struktur geworden ist, zu einer Kathedrale. Was in Dantes "Göttliche Komödie" in poetischen Worten zum Ausdruck kam, ist hier in all seiner wunderbaren pythagoräischen Weisheitder Proportionen in Steingebaut worden. Es ist wegen unserer Dumpfheit des Verstandes, dass wir einfach da rein gehen können, als ob es eine interessante Kirche wäre. Und doch glaubeich, dass jeder, der dort hineingeht, etwas von der Ewigkeit, auch vom Kosmos, vom Wunder des menschlichen Körpers als Mikrokosmos aufnimmt.
In Chartres hatten die Lehrer nurein Fragment von Platons Dialog, den Timaios, zur Verfügung, der die Schöpfung von Welt und Mensch beschreibt und in den man als moderner Wissenschaftler nicht eintreten kann. Die Verhältnisse der angegebenen Zahlen scheinen zufällig und aus der Luftgegriffen zu sein, die Beschreibungen des Körpers sind plastisch und primitiv. Aber wenn man sich in die Werke von Augustinus - ohne an den Kirchen - Vater zu denken - von Johannes Scotus Eriugena, von Boëthius, von Alanus ab Insulis, von Bernardus Silvestris vertieft, dann kommt man zu differenzierten Gedanken und Urteilen.
Bernardus beschreibt die Schöpfung als eine Zusammenarbeit großer Wesen, ausgehend von Noys (Nous), welche die formlose, unwillige Silva oder Hyde, die Materie, entsprechend ihrem höchsten geistigen Willen bezwingt. Fürdie Bildung des Leibes ruft sie die Natura (die Elemente und die niederen Ätherkräfte) mit Ourania, dem himmlischen Äther. Diese beiden wirken mit Physis zusammen, um die richtige Form des Leibes zu gestalten. Noys findet ihre Inspiration in Tugaton, die Tugend oder das Gute, das sich als Göttliche Dreifaltigkeit über die Sterne erhebt...
Wir haben versucht, etwas davon in Chartres zuerleben. Aber wir haben auch die Kathedrale selbst besucht. Davon also nächste Woche...
Chartres - 2 Von Mieke Mosmuller