Sind wir einmal überzeugt davon, dass das Denken in der modernen europäischen Kultur spiritualisiert werden muss, und wissen wir, dass das spiritualisierte Denken ein wahrhaftiger Kulturfaktor werden müsste, ohne den wir nicht gewahr werden können, was die Engel in unserer Seele weben, dann entsteht die Frage: Wie können wir ein solches Denken entwickeln? Unser modernes intellektuelles Denken ist ganz und gar nicht spiritualisiert, es hat gerade alles spirituelles Wesen verloren und ist ein materielles Denken geworden, ein Denken von ,Dingen’.
Es ist nicht möglich, das wissenschaftliche intellektuelle Denken in ein spirituelles Denken zu transformieren, ohne dass es einen Zwischenschritt gibt. Es liegt eine Art Abgrund zwischen unserem gewöhnlichen wissenschaftlichen Denken und dem Denken, das wir ein ,reines Denken’ nennen. Dieses reine Denken kann dann spiritualisiert werden. Das gewöhnliche wissenschaftliche Denken folgt den Sinnen und hält sich wach, indem es sich an diese anlehnt. Es beruht auf dem Beweis und hat eine materielle Logik und eine ,no-nonsense’-Form. Es wird kein Schritt gemäß Gedanken gesetzt, die auf sich selbst beruhen, ohne sinnlichen Beweis.
Spiritualisierung liegt ,hinter’ dem reinen Denken, das keinerlei sinnlichen Inhalt braucht. Wenn wir also beschließen, dass wir das spiritualisierte Denken entwickeln wollen, werden wir den Abgrund ,füllen’ oder eine Brücke darüber bauen müssen oder Flügel wachsen lassen müssen, um darüber fliegen zu können. Wenn wir nur Gedanken entwickeln würden, die sinnlichkeitsfrei sind, würden wir noch nicht dieses sinnlichkeitsfreie Denken haben, das wir ,spiritualisiert’ nennen.
Wenn wir zu den Wurzeln unseres intelligenten Denkens zurückgehen, finden wir in der Geschichte der Philosophie eine markante Figur, die der erste Mensch zu sein scheint, der versucht, die Menschen zu lehren, selbst zu denken: Sokrates. Wenn wir dann aber den Inhalt dieser Dialoge studieren – die von Platon aufgeschrieben wurden –, finden wir noch immer Themen, die von unserem heutigen rationalen Denken weit entfernt sind.
Nach Platon kommt Aristoteles, der die Grundlage zu der Erkenntnis gelegt hat, was logisches Denken genau ist. Daneben aber hatte er ein ausgedehntes Wissen von der Natur und der Physik, wie es zu dieser Zeit möglich war. Natürlich verlacht die moderne Physik die Fehler in seinem Werk, doch mit den Mitteln, die es zu jener Zeit gab, kam er dennoch sehr weit.
Als Philosoph schrieb er nicht nur Werke über die Logik. Er schrieb auch ein Werk, das Wissenschaft ist, wenn auch nicht in einem physischen Sinne, keine Physik. Aristoteles war der Meinung, dass die Wissenschaft der Natur, der Physis, unmöglich sei ohne jene andere Wissenschaft, die nicht physisch ist. Es ist eine Wissenschaft, die gleichsam neben der Wissenschaft einhergeht, die über alle Wissenschaft hinausgeht, weil alles darin seinen Ursprung hat und wieder dahin zurückkehrt. Der Wissenschaftler muss seine Arbeit schließlich auf richtige Weise tun. Darum braucht er eine Wissenschaft, die mehr ist als Wissenschaft. Wenn wir dieser Wissenschaft einen Namen geben wollen, müssten wir sagen, dass sie über die Wissenschaft hinausgeht, im Griechischen wäre das: Metaphysik. In dem gleichnamigen Werk von Aristoteles, in dem eine Vision der gerade erst geborenen, rationalen Logik entwickelt wird, finden wir noch eine Möglichkeit, zu entdecken, was intelligentes Denken eigentlich ist. Wir müssen innerlich aktiv werden, und es ist ziemlich lästig für unsere faulen Seelen, die an ein Denken gewöhnt sind, dass nur sehr lose mit den Dingen mitdenkt. Natürlich können wir auch diese Texte von Aristoteles auf diese lose Art lesen, oberflächlich und schnell und dann nichts davon haben. Aber wer eine tiefe Liebe für diese höchste menschliche Qualität, für diese wahre Intelligenz hat, wird ein wahrhaftiges Glück und eine Gnade beim Lesen und Erleben dessen empfinden, was in der Seele durch das Denken beim Lesen von Aristoteles’ Metaphysik geschieht.
Er beginnt dieses Werk mit einem Vorwort. Ich zitiere den ersten Abschnitt.
Die Aufgabe der Wissenschaft, die auf Erforschung der Wahrheit gerichtet ist, darf man wohl in einer Beziehung als schwierig, in anderer Beziehung wieder als leicht bezeichnen. Ein Anzeichen davon ist schon dies, daß kein Denker zwar die Wahrheit in völlig zutreffender Weise zu erreichen, keiner aber auch sie völlig zu verfehlen vermag, sondern jeder wenigstens etwas vorzubringen weiß, was der Natur der Sache entspricht, und daß, wenn auch der einzelne sie gar nicht oder nur in geringem Maße trifft, doch aus dem Zusammenwirken aller sich schließlich ein gewisses Quantum des Wissens ergibt. Wenn es also etwas für sich hat, was man im Sprichwort sagt: ein rechter Schütze, der ein Scheunentor verfehlt! so würde in diesem Sinne die Aufgabe immerhin leicht sein. Daß man aber ganz wohl mit dem Teile fertig werden und doch am Ganzen scheitern kann oder umgekehrt, darin zeigt sich die Schwierigkeit der Sache. Es könnte freilich auch sein, daß der Grund der Schwierigkeit, die sich in doppelter Beziehung darstellt, weit weniger im Gegenstande als in uns selber liegt. Denn wie sich das Auge der Fledermaus zum Tageslicht verhält, so verhält sich das denkende Vermögen unseres Geistes zu den Gegenständen, die von Natur und an sich unter allen gerade die lichtvollsten sind.
Wir können ein solches kleines Stück Text auf verschiedene Arten lesen. Die Bedeutung ist nicht so schwer zu erfassen. Aber wenn wir ein unabhängiges, klares und reines Denken entwickeln wollen, dann müssten wir versuchen, die Bewegung in der Bedeutung zu finden. Das geht in diesem einfachen Vorwort noch leicht. Wir finden dann die musikalische Wirkung der Gedanken, die gut komponiert sind: die These, Antithese und die Synthese, die dialektische Form, die Bilder, die in Worte gefasst sind. Das wäre ein Schritt in die Richtung des reinen Denkens, und dieses Denken kann spiritualisiert werden.
Das Entwickeln eines klaren und unterscheidenden Denkens Von Mieke Mosmuller