Der soziale Optimismus hat natürlich Grenzen. In den Freunden, im Mitmenschen muss es schon eine ebensolche gute Intention geben, man kann nicht einerseits bloß Freunde sein. Dennoch ist die Kraft, sich vorzunehmen, immer wieder von neuem zu beginnen, eine eigenständige Aktivität, die sich nicht allein auf die eigene Seite der Begegnung beschränkt. Die Kraft breitet sich außerhalb von einem aus, und es können wahre Wunder geschehen, wenn ich das Ich im Anderen sehe und mich zum Anderen als Ich gegenüber Ich, als Ich zu Ich verhalte. In einer solchen Beziehung gibt es keine Urteile, die aus einer Vergangenheit kommen, weil das Ich stets von neuem frisch ist und einem Ich gegenübertritt, das ebenso frisch ist, auch wenn man sich schon seit Jahren und Jahre hindurch kennt.
Es gibt eine großartige Legende, erzählt von Selma Lagerlöf in dem Buch ‚Christuslegenden’, Die Kerzenflamme. Francesca heiratet in Florenz im Mittelalter ihren Geliebten Rainiero di Rainieri, sie lieben einander sehr. Es ist die Zeit der Kreuzzüge. Aber Rainiero ist ein Prahlhans, und er denkt nicht viel nach über die moralischen Aspekte seiner Taten. Dadurch tut er seiner Geliebten wieder und wieder Leid an. Am Anfang vergibt sie ihm, denn sie liebt ihn so sehr. Dann aber bekommt sie Imaginationen von ihrer Liebe, die sie als ein goldenes strahlendes Gewebe schaut, und sie sieht, dass dieses nicht unendlich ist. Jedesmal, wenn Rainiero ihre Gefühle verletzt, ist ein kleines Stückchen Stoff verschwunden, das Gewebe wird kleiner und kleiner. Sie bekommt Angst, dass ihre Liebe völlig verschwinden wird, und sie verlässt Rainiero, damit das nicht geschieht. Sie kehrt zu ihrem Vater zurück.
Rainiero kann es nicht glauben, er ist schließlich so großartig. Aber sie kommt nicht zurück. Er beginnt, noch viel mehr zu prahlen, und von jeder seiner mutigen Taten schickt er die Beweise zu Francesca. Schließlich geht er mit auf Kreuzzug, und mit Gottfried von Bouillon erobert er Jerusalem. Bei den darauf folgenden Gelagen stößt ein Narr zu der Gesellschaft, der eine Geschichte über den heiligen Petrus und den Herrn zu erzählen beginnt, die die Situation auf Erden betrachten. In der Geschichte fällt die Aufmerksamkeit auf Raniero di Rainieri, und er wird herausgefordert, einen unmöglichen Auftrag auszuführen: eine Kerzenflamme von Jerusalem bis zur Kathedrale von Florenz brennend zu halten. Dies gelingt ihm, nach vielen Überwindungen seiner selbst, und er verändert sich völlig. Er erreicht Florenz am Osterabend, und er findet dort seine Francesca wieder.
Als unsere Kinder klein waren, lasen wir solche Geschichten vor, wodurch ich auch diese kennenlernte. Die Legende der heiligen Kerzenflamme machte einen tiefen Eindruck auf mich. Es ist ein Bild für die tiefste Sehnsucht: dass Menschen, die einander lieben, immer wieder zueinander zurückkehren, was auch geschehen ist. Dass dies nicht eine Reise ohne Mühe, Opfer und Herausforderungen ist, ist natürlich deutlich. Dass es in unserem Leben auf Erden auch nicht immer gelingt, ist ebenfalls deutlich. Doch dann wird es in der geistigen Welt gelingen, wo alle Schicksalsprobleme eine andere Form annehmen.
Doch lasst uns hier auf Erden in diesem Sinne sterben, bevor wir sterben: Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt... (Goethe).
Die ganze Geschichte ist zu lesen unter:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/christuslegenden-114/11 
Taufbecken der alten Kathedrale in Florenz, Santa Reparata, aus der Zeit der Legende.
Das goldene Gewebe der Liebe... Von Mieke Mosmuller