Wenn wir nur Denker wären und nichts anderes in der Seele hätten als das Vermögen, Begriffe zu denken und sie dann mit Logik zu verbinden, um komplizierte Inhalte mit Logik zu analysieren, wären wir wirklich nicht imstande, je zu wissen, ob etwas wahr ist oder nicht. Wir würden wirklich in dem Zustand sein, von dem die Philosophen behaupten, dass wir darin seien. Mit Logik können wir fast alles behaupten und mit einer intellektuellen Anlage, logisch mit unseren Begriffen umzugehen, können wir dem dann immer zeitweilig einen Wert beimessen. Gerade deshalb nennen wir unser Denken ‚abstrakt’, weil die Gedanken nicht durch die Wirklichkeit gebildet werden, sondern durch logische Gesetze. Wir können vollkommen logisch denken und dann trotzdem ganz neben der Wahrheit stehen. Als Arzt habe ich dies oft in Gesprächen mit (Ehe)Paaren mit Beziehungsproblemen erlebt. Meistens hat die weibliche Hälfte starke Gefühle und lebt mit diesen Gefühlen – die natürlich ganz subjektiv sein können – mit allen Personen und Tatsachen des Lebens. Ich will damit natürlich nicht sagen, dass Frauen nicht denken, sie denken oft sehr klar, aber das Denken ist nicht nur von der Logik beherrscht, sondern auch vom Gefühlsleben – und das kann dann bisweilen den Eindruck erwecken, als sei das Denken irrational. Die männliche Hälfte dagegen hat den rationalen Teil, und ich habe oft gesehen, wie dieses rationale Denken verwendet werden kann, um rational zu beweisen, was nicht wahr ist. Der Mann sagt auf eine rationale Weise, was er findet, und es scheint dann, dass er seinen Partner auch noch davon zu überzeugen vermag, zumindest zeitweilig – bis sie entdeckt, dass diese ‚rationale Wahrheit’ überhaupt nicht wahr ist. In der Politik sehen wir dieses Phänomen ebenfalls. Es ist immer möglich, bestimmte Prinzipien so zu formulieren (das können Frauen auch sehr gut), dass sie gesund und wahr zu sein scheinen. Im Denken haben wir die Möglichkeit, in Linien zu denken – geradlinig –, entlang dieser Linien immer weiter zu räsonieren, und alle anderen Möglichkeiten, die zwischen diesen Linien und anderen Gedankenlinien liegen, zu vergessen. Ein rundes, umfassendes Denken geht verloren, ein Denken, das im Deutschen ‚Vernunft’ und im Niederländischen ‚Rede’ genannt wird.
Aber was ist nun der Unterschied zwischen dieser abstrakten rationalen Logik und dem, was wir Vernunft nennen?
In dem interessanten Vortrag von Benjamin Zander auf Youtube, der letzte Woche in einem Link angegeben war, können wir sehen, wie der Vortragende zu beweisen versucht, dass jeder ein musikalisches Gehör hat, dass keine einzige hörende Person je ‚ton-taub’ sein kann. Auch wenn wir keine trainierten Musiker sind, nicht einmal Musikliebhaber, haben wir dennoch die Anlage, zu hören, ob ein Ton rein oder falsch ist. Wir würden nie behaupten, dass dieses Hören von Tönen durch das Denken geführt wird. Es ist eine direkte Erfahrung, aber wir müssen sehr wohl aufmerksam sein. Wenn wir unsere eigene Aktivität beim Hören und Erfassen und Interpretieren von Reinheit oder Falschheit wahrnehmen, können wir lernen, wahrzunehmen, dass es das Gefühlsleben ist, das uns das Reine oder Unreine der Töne anzeigt. Das Ohr hört, aber es ist das Herz, das weiß. Das Gehirn steht nicht einmal dazwischen, es wirkt erst nachträglich mit und gibt das Bewusstsein, dass das Wissen da ist.
Hier finden wir eine Analogie zu dem Erfassen der Wahrheit. Das Denken von Begriffen und das Kombinieren und Analysieren auf logische Weise können wir mit dem Hören von Tönen und Melodien vergleichen, ohne dass wir uns dem Phänomen Rein oder Falsch zuwenden – nur Zuhören, das ist es und nichts anderes. Es ist dann kein Organ aktiv, um zu unterscheiden, ob das Denken wahr ist oder nicht, logisch oder nicht.
Um die Reinheit oder die Falschheit zu ‚hören’, muss das Herz dazukommen. Dies ist ebenso eine Art Sinnesorgan, es ist das Organ des Gefühlslebens, zusammen mit der Atmung. Allein das Fühlen kann uns auf die Wahrheit weisen, das Herz muss die Wahrheit wahrnehmen. Mit einem reinen Herzen wissen wir, ob etwas wahr ist oder nicht.
Aber das Gefühl ist subjektiv, das Herz selbst ist nicht rein. Darum ist Wahrheit so schwer zu erfassen. Wir können sie nur finden, indem wir unsere Seele zur Reinheit erziehen, so dass sie mit der Wahrheit zusammenklingt.
In der Bhagavad Gita wird diese Form von Wahrheit besungen. Die Form von Wahrheit, die durch eine Person allein, in Einsamkeit gefunden werden kann, beruht auf der Seele, die durch eine Selbsterziehung gegangen ist. Darum ist diese Wahrheit dann immer auch spirituelle Wahrheit. Hier wird das Denken spiritualisiert, indem es mit einem reinen Herzen wahrgenommen wird.
In unserer Zeit hat sich im Vergleich zu der Zeit der Bhagavad Gita sehr viel verändert. Wir müssen in vielerlei Hinsicht andere Wege gehen. Aber die Reinigung des Herzens ist und wird immer ein hervorragender Grad jener Reinheit bleiben, die erreicht werden muss.
Krishna und Arjuna.
Das Herz als ein Sinnesorgan Von Mieke Mosmuller