'Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder - alles ist neu, und doch immer das Alte.Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.'Fragment über die Natur, Johann W. v. Goethe
Gegen alle Tatsachen, auf denen die Evolutionstheorie beruht, ist natürlich nichts einzuwenden. Aber wir müssen in Betracht ziehen, dass diese Theorie im Laufe des 19. Jahrhunderts gebildet wurde, in dem in der Philosophie sehr stark der Materialismus aufkam (Auguste Comte u.a.), im Sozialen ebenfalls – man denke an Marx –, aber auch in der Naturwissenschaft trat die Denkrichtung des Materialismus sehr stark in den Vordergrund. Materialismus ist die Sichtweise, dass alles in der Natur auf dem Entstehen und der Entwicklung von Materie beruht.
Dies kann man als eine bestimmte inhaltliche Überzeugung betrachten, aber man kann auch einmal auf eine andere Weise darauf schauen und sich fragen: Ist es nicht der Denkprozess selbst, der im 19. Jahrhundert die Richtung des Materialismus eingeschlagen hat? Dann ist es nicht so sehr die inhaltliche Überzeugung, die eine Rolle spielt – nämlich: alles beruht auf Materie, Materie ist das Hauptprinzip des Daseins, die Grundlage unseres Daseins –, sondern dann ist auch die Art des Denkens selbst materiell geworden, das heißt, dass der Verstand diesen Gedankengang so denken will, weil er selbst nun einmal so beschaffen ist.
Die Hauptkategorien des Verstandes sind die zwei Begriffe Ursache und Wirkung. Damit denkt der Verstand, damit betreibt der Verstand seine Forschung, damit findet er seine Resultate. Ausgehend von der Aufeinanderfolge von Urasche und Wirkung ist dann auch die Theorie der Evolution konzipiert worden. So gesehen beruht die umfassende Entwicklung vom Mineral bis zum Menschen auf einer Aufeinanderfolge von Ursachen und Wirkungen. In dieser weise denkt der Verstand, weil er selbst bei der Entwicklung von Prozessen nur so vorgehen kann. Die Technik basiert ganz und gar auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung.

Man könnte einmal wagen, zu denken, dass dies eine Beschränktheit ist, dass es eine beschränkte Blickrichtung ist. So, wie man mit einem bestimmten Ziel auf die Straße gehen kann, auf sein Rad steigen kann, zu Edeka fahren, und man nicht sieht, dass die Bäume in der Straße blühen, oder nicht sieht, dass man an seinem besten Freund vorbeifährt – ebenso könnte man sich auch einmal vorstellen, dass der moderne Denker das Ziel einer Entwicklung auf der Basis von Ursache und Wirkung hat und dadurch verlernt hat, sich umzuschauen und auf dasjenige zu blicken, wo diese Prinzipien keine Rolle spielen oder wo sie, extrem gesagt, sogar umgekehrt werden müssen.
Die Technik experimentiert mit Ursache und Folge. Ist einmal eine bestimmte Stufe der Entwicklung erreicht, dann kann von da aus nach der weiteren Entwicklung gesucht werden. Auch der Künstler kann sich an diese Entwicklungsprinzipien anpassen und einfach anfangen und sehen, wie sich das eine aus dem anderen entwickelt, und so zu dem kokmmen, was man dann ein Kunstwerk nennt.
Aber es gibt eine Möglichkeit, dies völlig andersherum zu denken. Man kann sich vorstellen, dass ein Künstler ein bestimmtes Bild in sich hat, ein visuelles Bild oder ein Tonbild, das seinem Schaffen zugrundeliegt. Dann beginnt er nicht bei dem Einfachen und entwickelt vom Einfachen aus sein kompliziertes Kunstwerk, sondern dann liegt das komplizierteste Bild seiner Schöpfung zugrunde, und er wird versuchen, sich mit künstlerischem Vermögen diesem ursprünglichen Idealbild so gut wie möglich zu nähern. In dem Moment kehrt sich die Reihenfolge von Ursache und Wirkung radikal um. In diesem Moment wird das, was in der Zukunft gesehen wird, dasjenige, was schließlich die Wirkung werden muss, Ursache, und die Ursache wird dann selbst die Wirkung.
'Der Himmel schickt uns manchmal Wesen, die nicht nur die Menschlichkeit repräsentieren, sondern auch das Göttliche, so dass, indem wir sie als Vorbild nehmen und nachahmen, unser Geist und das Beste unserer Intelligenz in die Nähe der höchsten himmlischen Sphären kommen können. Die Erfahrung lehrt, dass diejenigen, die sich dahin führen lassen, die Spuren dieser wunderbaren Genien zu studieren und ihnen zu folgen, auch wenn ihnen die Natur wenig oder keine Hilfe bietet, sich den übernatürlichen Werken zumindest nähern dürfen, die an seiner Göttlichkeit teilhaben.’ (Giorgio Vasari über Leonardo da Vinci, 1550).
Der Begriff der Entwicklung im Verstand: Ursache und Wirkung? Von Mieke Mosmuller