Aus dem Vortrag vom 23.9.1922 von Rudolf Steiner (GA 216):
'Seither ist die Menschheit in eine ganz andere Entwickelung eingetreten, und ich habe auf die besonderen Eigentümlichkeiten dieser Entwickelung immer wiederum von den verschiedensten Gesichtspunkten aus hingewiesen. Namentlich habe ich darauf hingewiesen, wie seit dem 15. Jahrhundert die Menschheit von dem intellektuellen Elemente ergriffen worden ist, das heute eigentlich alle menschliche Kultur und Zivilisation im weitesten Umfange beherrscht und das in der neueren Entwickelung namentlich dadurch heraufgekommen ist, daß allmählich eine ältere Sprachform, die noch in ihrer ersten Gestaltung mit dem zusammenhing, was ich als dieses Erlauschen des Rhythmus in der griechisch-römischen Zeit bezeichnen konnte, daß die lateinische Sprache bis tief ins Mittelalter hinein sich fortgesetzt hat und sich ganz und gar umintellektualisiert hat. So daß eigentlich durch die lateinische Sprache vielfach die Erziehung der modernen Menschheit zum modernen Intellektualismus bewirkt worden ist.
Dieser Intellektualismus, der auf Gedanken beruht, die ganz und gar von der Entwickelung des physischen Menschenleibes abhängen, bringt eigentlich die ganze Menschheit in Gefahr, von der geistigen Welt abzufallen. Und man kann schon sagen: Wenn die älteren Religionsbekenntnisse von einem Sündenfall in älterer Form sprechen, der mehr als ein moralischer Sündenfall gemeint ist, so muß man von der Gefahr, in die die neuere Menschheit versetzt ist, als von einem intellektualistischen Sündenfall sprechen. - Denn die heute allgemeinen Menschheitsgedanken, denen gegenüber die Menschheit das größte Autoritätsgefühl hat, die sogenannten gescheiten Gedanken der modernen Wissenschaft, diese durchaus intellektuallstischen Gebilde sind ganz und gar begründet auf den physischen Menschenleib. Man darf eben nicht glauben, daß, wenn der moderne Mensch denkt, er etwas anderes als den physischen Menschenleib zu Hilfe nimmt. Die Ge-danken waren eben in früherer Erdperiode etwas ganz anderes. In früheren Perioden der geschichtlichen Entwickelung kamen die Gedanken der Menschen zugleich mit gewissen spirituellen Schauungen. Spirituelle Schauungen drangen entweder aus dem Kosmos an den Menschen heran, oder aber sie stiegen aus dem Inneren des Menschen auf. Diese spirituellen Schauungen, sie trugen, ich möchte sagen auf ihren Wogen Gedanken. Das waren geistig gegebene Gedanken, das waren Gedanken, die aus der geistigen Welt dem Menschen geschickt waren, Gedanken, die sich eben dem Menschen offenbarten. Solche Gedanken sind dem Intellektualismus nicht zugänglich.
Wenn man aus der bloßen Logik heraus, nach der ja die moderne Menschheit strebt, sich seine Gedanken selber macht, so ist man dadurch mit seinem Bewußtsein an den physischen Leib gebunden. Nicht, als ob die Gedanken selber aus diesem physischen Leib er-stünden. Das ist natürlich durchaus nicht der Fall, aber die Kräfte, die in diesen Gedanken wirken, werden dem modernen Menschen nicht bewußt. Er lernt die Gedanken gar nicht in ihrer wahren Wesenheit kennen. Alle Gedanken, die der moderne Mensch schon in der Schule empfängt durch das, was ihm als populäre Wissenschaft übermittelt wird, was in der populären Literatur enthalten ist, alle diese Gedanken sind ihrer eigentlichen Substanz nach, dem nach, was in ihnen lebt, dem modernen Menschen unbekannt. Er kennt sie nur als Spiegelbilder. Der physische Leib ist der Spiegel, und der Mensch lernt nicht erkennen, was in seinen Gedanken eigentlich lebt, sondern er lernt nur das erkennen, was ihm der physische Leib von diesen Gedanken zurückspiegelt. Denn würde der Mensch sich hineinleben in diese Gedanken, dann würde er das vorirdische Dasein wahrnehmen können. Das kann er nicht. Der moderne Mensch kann das vorirdische Dasein nicht wahrnehmen, weil er gar nicht in der Substanz seiner Gedanken, sondern nur in den Gedankenspiegelbildern lebt. Sie sind keine Realitäten, diese Gedanken.
Und das ist gerade das Gefährliche für die moderne Menschheitsentwickelung, daß eigentlich in diesen Gedanken substantiell das Geistige, das Spirituelle, das vorirdische Leben ist, daß aber der Mensch nichts davon weiß, sondern nur von den Spiegelbildern weiß. Dadurch fällt etwas, was eigentlich für die geistige Welt bestimmt ist -denn diese Gedanken sind für die geistige Welt bestimmt, sie wurzeln in der geistigen Welt -, im modernen Menschen ab von der geistigen Welt und spiegelt sich am physischen Leib. Und was da gespiegelt wird, das ist nur die äußere Sinneswelt, so daß man wirklich für die moderne Zeit von einem Sündenfall sprechen könnte, der auf intellektualistischem, intellektuellem Gebiete sich ergibt. Die große Aufgabe der Zeit - wir haben das ja oftmals charakterisiert - besteht gerade darin, daß wiederum Spiritualität, wirklicher Geist auch für das Bewußtsein des Menschen in die Gedankenwelt einzieht. Der Mensch kann sich nicht, wenn er wirklich mit der modernen Welt leben will, seines Intellektualismus entschlagen; aber er muß den Intellektualismus spiritualisieren, er muß wiederum geistige Substanz in seine Gedanken hineinbringen.'
In der vergangenen Woche habe ich hingewiesen auf den Weg, die Substanz im Denken zu finden. Nächste Woche werde ich einen anderen Weg besprechen.
Die Materie des Geistes Von Mieke Mosmuller