In der europäischen Mythologie – und auch in anderen Mythologien – finden wir den Keim der menschlichen Freiheit und die Dämmerung des Gottesreiches. In unserer Zeit sind wir von diesen halbbewussten Einflüssen der Götter befreit. Wir erkennen keinen Gott, denn wir sehen ihn nicht – vielleicht glauben wir, dass er dennoch existiert, in einer anderen Welt, oder in einem anderen Bewusstsein, doch es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis, dass Gott existiert.
Wir sind also frei. Wir können genau das tun, was wir wollen, denken, worauf wir Lust haben, glauben, was wahr zu sein scheint. Es scheint keine einzige Macht mehr zu geben, die uns zwingt, außer vielleicht noch das Gewissen oder angelernte moralische Normen.
Wenn man an solche Zusammenhänge zu denken beginnt, weiß man, dass es von der Wahrheit weit entfernt ist, dass wir frei seien. Es gibt eine mächtige Kraft, die von außen zwingend auf uns einwirkt. Wir sehen diese Macht nicht, so wie wir auch Gott nicht sehen. Ein neuer Wotan leitet uns, und die Frage ist: Wie können wir eine neue Brünnhilde werden?
Wenn man sich selbst betrachtet, wenn man die Nachrichten hört oder in der Zeitung liest, dann kann man die erste Reaktion, die in einem aufkommt, sehr gut verfolgen. Schaut man nicht auf das, was in einem aufsteigt, sind diese Reaktionen natürlich ebenfalls da, aber man bemerkt sie nicht. Sie formen sich unerkannt zu Meinungen im Kopf und im Herzen, und man ist sich der Prozesse, wodurch diese Meinungen hervorgerufen werden, überhaupt nicht bewusst. Später jedoch bestimmen diese Meinungen sehr wohl, wie man über die Dinge denkt und wie man handeln will oder findet, dass gehandelt werden müsse – und man merkt es nicht.
So werden wir zu programmierten Wesen. Denken und FĂĽhlen werden geformt, ohne dass wir mit dem Bewusstsein dabei sind. Wir untersuchen nicht, woher die Meinungen kommen.
Wenn man einen beeindruckenden Bericht hört, etwa über Hinrichtungen aufgrund von religiösen Überzeugungen, dann fühlt man unmittelbar bestimmte Reaktionen in einem aufsteigen. Doch die erste Reaktion müsste sein, sich zu fragen: Ist dies wirklich wahr, und wenn ja, ist auch dessen Bedeutung, von der mir berichtet wird, ebenfalls wahr? Werde ich durch eine bestimmte Berichterstattung nicht in eine bestimmte Richtung gelenkt, die mir sagt, wie ich denken und fühlen soll? Ich will hier nicht alle Nachrichten bezweifeln oder doppelter Bedeutungen verdächtigen. Ich will nur auf die Tatsache hinweisen, dass unmittelbar ein Urteil aufkommt und dass die notwendige erste Frage übergangen wird: Kann ich allen Informationen aus den Medien vertrauen? Natürlich kann ich das nicht! Doch das bedeutet auch wiederum nicht, dass jede Information unrichtig ist. Ich werde also eine Art neues Sinnesorgan entwickeln müssen, um die Unterscheidung treffen zu können.
Die erste Handlung ist, sich selbst die Frage zu stellen, ob es wohl wahr ist, was man hört. Es ist nicht einmal wichtig, ob ich diese Frage mit Ja oder Nein beantworten kann. Die Frage an sich stoppt das automatische Abrollen des ganzen Prozesses der Meinungsbildung und Urteilsbildung. In Wirklichkeit sind wir alle Sklaven der Medien … bis wir aufstehen und uns selbst die erste Frage stellen, immer wieder von neuem.
Im sechsten Jahrhundert vor Christus lebte Gautama Buddha. Er machte eine großartige Erleuchtung durch, und er gab der Menschheit im achtfachen Pfad den Keim dessen. Der erste Schritt darin ist das Bilden der richtigen Meinung. Denn die Meinung ist die Basis für das Ganze unserer Gedanken und Urteile – und so schließlich auch für unsere Taten.
Das Bewusstwerden des Bildens der richtigen Meinung ist in unserer Zeit eine wahre Herausforderung, der wir nicht aus dem Weg gehen wollen dĂĽrften...
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Die papierne öffentliche Meinung
Die öffentliche Meinung Von Mieke Mosmuller