Als Grundlage der Geisteswissenschaft sollten wir zur Substanz des Denkens kommen. Die täglichen Gedanken, auch die wissenschaftlichen Gedanken, sind nur Bilder - wahr oder nicht, richtig oder falsch. Dies ist das Merkmal des intellektuellen Denkens. Wir brauchen diesen Begriff „Denken“ nicht weiter zu unterscheiden. Jeder Gedanke ist ein Bild, und es hat kein Sein. Deshalb ist lügen so leicht, weil die Lügen nicht zu sein scheinen. Man kann denken und sagen, was passt, was uns gut gefällt. Das Denken hat keine Substanz, keine ‚Materie‘, es erzeugt Bilder.
Wir haben gesehen, dass dieser Mangel an Substanz mit einem Mangel an Willenskraft im Denken zu tun hat. Sogar das intensive und schwierige Denken in der Wissenschaft gibt nur ein winzig bisschen Willen in unseren Gedanken. Sie treiben weg wie Wolken in der Luft. Gedanken, in ihrer besten Form - in der Wissenschaft - sind Bilder von Form, von Idee und sie sind gegensätzlich zur Substanz, zur Materie. Draußen sind die materiellen Dinge; nach innen, in meinen Gedanken, gibt es nur Form. Selbst wenn ich alles was in der Welt ist verstehen könnte, wenn ich das ganze Reich der Form gefunden hätte, würde ich etwas vermissen: die Materie. Dies ist die aristotelische Position. Aristoteles konnte keine Brücke zwischen Form und Materie finden. Er verweist auf diese Brücke in seinen Schriften über Gott, über den unbewegten Beweger, über die Aktualität. Aber dieser Punkt wurde nicht selbst Substanz.
Und so hatte die Geschichte der Menschheit sich durch viele Möglichkeiten des Denkens hindurch zu arbeiten, um schließlich einen jungen Mann erscheinen zu sehen, in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, der die Lösung gefunden hat, eine Lösung, die nicht mehr ein Bild ist, sondern ein Weltenwunder, ein großer Schritt in der Entwicklung hin zu wahrer Menschlichkeit.
Natürlich hat die große Welt dies nicht gesehen, und wo es gesehen wird, wird es stark bekämpft. Nur wenige Menschen haben es verstanden, und noch weniger haben die Herausforderung angenommen. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, das zu ändern ...
Der junge Mann, Rudolf Steiner, stellte fest, dass Fichte in seiner Philosophie das fehlende Glied gefunden hatte. Er beschrieb das menschliche Ich. Und er sah, dass das Ich durch seinen eigenen Willen aktiv werden kann. Aber er hat nicht klar beschrieben, welche Art von Aktivität das Ich 'wollen' kann. Steiner hat die Antwort gefunden: Das Ich bringt das Denken in Erscheinung, es setzt das Denken. Es werden nicht die assoziativen Gedanken gemeint, die kommen und gehen, sondern das wahre Denken, womit wir Wissen erlangen. Die ‚Natur‘ des Ich ist das Hervorbringen der Gedanken und Ideen, der Begriffe. So kann also Steiner schreiben:
'Der Umstand, daß das Ich durch Freiheit sich in Tätigkeit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Erkennens zu realisieren, während in der übrigen Welt die Kategorien sich durch objektive Notwendigkeit mit dem ihnen kor-respondierenden Gegebenen verknüpft erweisen. Das Wesen der freien Selbstbestimmung zu untersuchen, wird die Aufgabe einer auf unsere Erkenntnistheorie gestützten Ethik und Metaphysik sein. Diese werden auch die Frage zu erörtern haben, ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag. Daß die Realisierung des Erkennens durch Freiheit geschieht, geht aber aus den oben gemachten Anmerkungen bereits klar hervor. Denn wenn das unmittelbar Gegebene und die dazugehörige Form des Denkens durch das Ich im Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so kann die Vereinigung der sonst immer getrennt im Bewußtsein verbleibenden zwei Elemente der Wirklichkeit nur durch einen Akt der Freiheit geschehen.' (GA3)
Aber das war nicht alles. Diese Art von Gedanken-Entfaltung durch Freiheit kann immer noch nur Formen und nicht Substanz bilden. Aber Fichte war der Philosoph, der das Rätsel der Form und der Materie lösen konnte. Das Ich ist nicht nur Form, denn es ist etwas Reales - obwohl die moderne Philosophie dies bekämpft und es im Rahmen von „nur ein Bild“ sieht. Wir brauchen gar nicht zu glauben, dass das Ich von Anfang an etwas Reales ist, wir können den Begriff des Ich formen. Aber dafür muss das Ich stark sein, viel stärker als es natürlich ist. Und durch dieses Stärker-Werden, wird es ein wesentlicher Gedanke, die erste Form, die seine Substanz, seine Materie erzeugt. Das ist nicht mehr eine Theorie, es kann beobachtet werden. Und diese Beobachtung geht weiter als alle anderen Beobachtungen in unserem Leben. Ich könnte ein Loblied hierauf singen. Und vielleicht sollte ich es auch mal tun, und die Segnungen, die Gnade des Findens des realen Ich, das seine Form findet und sich selbst als Materie hervorbringt nächste Woche hier beschreiben.
Die Substanz des Denkens Von Mieke Mosmuller