Wenn man über den Ursprung des Bösen nachdenkt, kommen einem die großen Götter- und Heldensagen in die Erinnerung. Wenn wir Texte davon haben, brauchen wir eine lebendige Phantasie, um die wahre Bedeutung einer Sage zu fassen. So zum Beispiel die Figuren Hera und Zeus. Es bleiben leicht einfach nur Namen, wenn wir nicht versuchen, die Figuren so intensiv wie möglich zu erleben.
In den verschiedenen Kunstformen finden wir eine großartige Hilfe, um unsere Bilder zu verlebendigen. Künstler können uns erfassen lassen, was eigentlich die tiefere Bedeutung zum Beispiel von bestimmten Figuren und Geschehnissen aus der Mythologie ist.
Vielleicht ist die Musik die eindrücklichste Art, unsere schwachen Gedanken und Gefühle zum Leben zu erwecken. Und wir mögen von einem Komponisten wie Richard Wagner denken, was wir wollen – wir sollten bei unserer Meinungsbildung immer mit bedenken, dass er lebte und starb, bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach, bevor die darin lebende Ideologie aufkam. Wagner war ein Meister in der bis in die feinsten Details geführten Darstellung des Handelns und der Emotionen von Personen – seien sie menschlich oder göttlich. Er behandelt seine Themen mit großem Mut. Durch die Langsamkeit der Handlung erreicht er, dass er nicht durch eine schnelle Folge, sondern gerade durch eine erweiterte Form der Handlung die Spannung erzeugt. Die Musik gibt dieser Spannung zusätzliche Kraft, gibt Emotion, den dramatischen Ton.
In 'Die Walküre' wird die alte germanische Mythologie gezeigt. Auf berührende Weise wird die Trennung zwischen dem Gott Wotan und seiner liebsten Tochter Brünnhilde gezeigt. In den dramatischen Szenen wird deutlich, das alles Geschehen auf Erden, zwischen Menschen, von den Göttern gelenkt wird. Ein Mann kann glauben, dass er seinen Gegner überwunden habe – doch er vermag dies nur dadurch, dass er während seines tapferen Kampfes die Hilfe der Götter erhält.
Die tapfersten Krieger werden nach Walhalla gebracht, nachdem sie auf dem Schlachtfeld gestorben sind. Die Führer dorthin sind: die Walküren. Töchter Wotans, durch die Luft reitend, um nur auf Erden zu erscheinen, um den Tod zu verkünden und den Gestorbenen nach Walhalla zu führen, wo er sich zu den anderen Helden gesellen und an der Tafel der Götter sitzen darf.
Die Götter beschließen, wer sterben muss, wer gewinnen darf – die Walküren führen aus, was die Götter beschlossen haben.
Dann kommt die tief berührende Szene, in der Brünnhilde weiß, dass ihr Vater Wotan einen Mann – Siegmund – am Leben erhalten will, doch seine Ehefrau Fricka erlaubt dies nicht – und er muss nachgeben. Brünnhilde muss die Niederlage herbeiführen...
Als sie aber die irdische, tiefe Liebe sieht, die Siegmund für Sieglinde hat, für die er sogar seine Zukunft in Walhalla aufgeben will, beschließt sie, ihn zu retten – im vollen Bewusstsein, dass sie im Widerspruch zu dem Willen ihres Vaters, dem Gott, handelt.
Diese Tat der Freiheit markiert den beginn der ‚Götterdämmerung’. Wotan muss selbst an Stelle Brünnhildes handeln und sorgt dafür, dass Siegmund doch stirbt. Danach muss er seine geliebte Tochter verstoßen und sie auf die Erde werfen – mitten unter die Menschen.
Dieser Moment, das erste Mal, dass ein göttliches Wesen etwas völlig aus eigenem Willen tut, ist sehr beeindruckend. Es ist deutlich, dass das Motiv das Sehen der wahren Liebe zwischen Menschen ist, wie sie nur auf Erden möglich ist. Wir können unmöglich sagen, dass Brünnhilde eine Sünde begeht – und doch begeht sie eine Sünde. Hier zeigt sich das Mysterium des Ursprungs des Bösen, hier, wo wir sehen können, dass das Böse gut und das Gute böse sein kann... Es ist nur dann das Böse, wenn es nicht in die Gewohnheiten, Werte und Normen passt – doch es kann trotzdem gut sein, weil es auf wahrhaftiger Liebe beruht.
Als Menschen haben wir jedoch einen Verstand und ein Herz empfangen, und es ist uns zugestanden, selbst über Gut und Böse zu urteilen. Und wenn wir dann sehr sorgfältig auf das achten, was in uns geschieht, wenn wir urteilen – dann finden wir einen wahrhaftigen Sinn für Wahrheit in unserem Verstand und unserem Herz. Brünnhilde zeigt dies zum ersten Mal.
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Arthur Rackhams Illustration des ‘Walkürenritts’
Die Walküren Von Mieke Mosmuller