In den zurückliegenden Monaten habe ich mehrere religiöse und philosophische Gedanken zitiert, wie sie im Verlauf vieler Jahrhunderte aufgeschrieben worden sind. Wenn wir die Möglichkeit hätten, im selben Moment alles gleichzeitig zu denken, würden wir wahrscheinlich eine vollständige Idee des Bösen in seinem Wesen haben, und wir würden auch eine Vorstellung haben, wie die Anschauungen in Bezug auf das Böse sich im Lauf der Zeit verändert haben. Aber wir können nur eines nach dem anderen denken, nicht alles zugleich. Das Ganze, das übersichtliche Bild bleibt ein Geheimnis.
Wenn wir erfahren, wie die Seele eine Vermittlerin zwischen zwei Kräften ist, die um sie kämpfen – eine Kraft, die dazu verführt, die Erde zu verlassen, auf der einen Seite; eine Kraft, mit der Erde zusammen zu wachsen auf der anderen Seite –, dann lernen wir eine andere Form von Vermittlung kennen. Die Seele muss die Balance zwischen den Kräften, die in ihr aufsteigen, und den Kräften, die von außen kommen, finden. Wir suchen immer nach der Balance zwischen einem Leben in der sinnlichen Welt und einem Leben im Gedanken- und Gefühlsleben, im Wunschleben. In dem inneren Leben ist immer jene Kraft da, die uns in Gedanken und Gefühlen absorbieren will, von der Realität wegträumen lassen will. Das äußere Leben zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich, zwingt uns, aus unseren Träumen zu erwachen und den Weg zurück zur Realität zu finden – wie die Sinne uns diese geben. Rudolf Steiner hat diese verführenden Wesen ihren Namen gegeben: das Wegträumen in Gedanken ist ein Wesen: Luzifer; das Scheinen der Sinne ist auch ein Wesen: Ahriman. Alles, was wir erleben, scheint zunächst von diesen zwei Welten zu kommen. Wenn jedoch eine perfekte Balance dazwischen bestünde, wäre das Böse nicht möglich. Das Böse ist nicht ein Teil einer Dualität: von Gut und Böse. Es sind die Gegensätze: im Denken absorbiert sein oder im Schein der Sinne, in der Wahrnehmung leben.
Es gibt einen großartiges Textabschnitt, der uns zur Balance führt, er weist uns den Weg dahin, zeigt, was ,Vermitteln’ sein müsste. Es ist eine Erläuterung einer Szene in Steiners Mysteriendrama. Benedictus ist der spirituelle Lehrer, Capesius ein Student. Steiner sagt in dieser Erläuterung:
'Es sagte zum Beispiel Benedictus zu Capesius: Man kann nun auch dasselbe Walten der Dreiheit, der Polarität oder des Gegensatzes in der Dreiheit, des maßvollen Ausgleiches, an anderen Punkten des Daseins finden. Man kann wiederum ein Ding von einem anderen Gesichtspunkt aus ins Auge fassen: das Denken, das innere Vorstellen. Das innere Vorstellen, das Sich-Er¬arbeiten der Weltengeheininisse, das ist das eine; das zweite ist das reine Wahrnehmen, sagen wir das bloße Hinhören. Es gibt Menschen, welche mehr daraufhin angelegt sind, alles in sich ergrübelnd zu über-legen. Andere Menschen, die denken nicht gerne, die hören überall hin, nehmen alles auf das Hinhorchen, auf die Autorität hin an, und wenn es auch die Autorität der Naturerscheinungen ist, denn es gibt auch eine Dogmatik der äußeren Erfahrung, wenn man sich nämlich die äußeren Naturerscheinungen aufdrängen läßt.
Nun konnte leicht Benedictus dem Professor Capesius zeigen: In dem einsamen Denken liegt wiederum die luziferische Verlockung; in dem bloßen Hinhorchen, in dem bloßen Wahrnehmen liegt das ahrimanische Element. Man kann aber einen mittleren Zustand ein¬halten, sozusagen zwischendurchgehen. Man braucht weder bloß zu verweilen in dem abstrakten, grüblerischen Denken, wobei man sich einsiedlerisch in der Seele abschließt, noch sich hinzugeben dem blo¬ßen Hinhören und Hinsehen auf das, was die Ohren und Augen wahr¬nehmen können. Man kann noch ein anderes tun, indem man das, was man denkt, innerlich so lebendig macht, so kraftvoll macht, daß man den eigenen Gedanken wie etwas Lebendiges vor sich hat und in ihn lebendig sich vertieft wie in etwas, was man draußen hört und sieht, so daß der eigene Gedanke so konkret wird wie das, was man hört oder sieht. Das ist ein mittlerer Zustand. In dem bloßen Gedan¬ken, der dem Grübeln zugrunde liegt, da liegt das Herantreten des Luzifer an den Menschen; in dem bloßen Hinhören, sei es durch das Wahrnehmen oder sei es durch die Autorität der Menschen, liegt das ahrimanische Element. Wenn man innerlich erkraftet und erweckt die Seele, daß man seinen Gedanken gleichsam hört oder sieht, dann hat man das Meditieren. Das Meditieren ist ein mittlerer Zustand. Es ist weder Denken noch Wahrnehmen. Es ist ein Denken, das so lebendig in der Seele lebt, wie das Wahrnehmen lebendig lebt, und es ist ein Wahrnehmen, das nicht Äußeres, sondern Gedanken in der Wahr¬nehmung hat. Zwischen dem luziferischen Element des Gedankens und dem ahrimanischen Element der Wahrnehmung fließt hin das Seelenleben im Meditieren als in dem göttlich-geistigen Element, das nur den Fortschritt der Welterscheinungen in sich trägt. Der meditierende Mensch, der in seinen Gedanken so lebt, daß sie lebendig in ihm werden, wie Wahrnehmungen in ihm sind, lebt in dem göttlichen Dahinströmen. Rechts hat er den bloßen Gedanken; links das ahrimanische Element, das bloße Hinhorchen; und er schließt nicht das eine und das andere aus, sondern weiß, daß er in einer Dreiheit lebt, daß die Zahl das Leben regelt. Und er weiß, daß eine Polarität, ein Gegen¬satz da ist, ein Gegensatz zweier Dinge, zwischen denen sich das Meditieren hinströmend bewegt. Und er weiß auch, daß maßvoll das luziferische und das ahrimanische Element hier in dem Meditieren sich das Gleichgewicht halten müssen.'
So lernen wir hier einen neuen Gesichtspunkt in Bezug auf das Böse kennen, nicht als eine Opposition zum Guten, sondern als eine Abirrung von einem vollkommenen Gleichgewicht, möglich auf zweierlei Art.
Eine Reflexion auf das Böse Von Mieke Mosmuller