Rund 35 Jahre her liegt meine stürmische Begegnung mit der Anthroposophie. Es ereignete sich in einer Nacht. Mein Mann war ausgegangen zu einer Entbindung (wir waren damals Hausärzte und ich war zuhause, und beantwortete das Telefon). Wir hatten einige Bücher von Rudolf Steiner gekauft, in der Hoffnung bei ihm eine Erklärung zu finden, dass homöopathisch verdünnte Mittel wirksam sind - was wir durch Verwendung davon in der Praxis entdeckt hatten.
Das Buch, das ich an jenem Abend zum Lesen wählte war die Theosophie, in einer holländischen Übersetzung.
Ich war verwundert, bestürzt. Ich las die ganze Nacht, bis es keine weiteren Zeilen mehr gab. Von dieser Nacht an lasen wir beide weiter, immer weiter, aus Hunger und Durst nach Spiritualität - von der wir zuvor keine Ahnung hatten. Nach einem Jahr oder so entdeckten wir auch die philosophischen Werke und die späteren Bücher über das Denken, wie zum Beispiel 'Vom Menschenrätsel'. Inzwischen hatte ich mich daran gewohnt, die Bücher auf Deutsch zu lesen. In meiner eigenen Seele trat eine Änderung ein, ich begann die Bewegung des Denkens gewahr zu werden, das Erleben des Denkens wurde immer mehr möglich. Nicht nur der Inhalt wurde Erlebnis, sondern auch der Prozess des Denkens. Ich fand in den Büchern von Rudolf Steiner eine großartige Quelle von Erklärungen und Anregungen, und es konnte geschehen, dass nur ein Satz mich so frappierte, das ich ihn durch Jahre hindurch, wegen der Potenz der inneren Entwicklung darin, in mir festhielt und pflegte. Später, als ich mein erstes Buch schrieb, verwendete ich solche Sätze. In dem Buch 'Vom Menschenrätsel' war es vor allem der Teil über Ignaz Paul Vitalis Troxler, ein schweizerischer Arzt und Philosoph, der mich positiv erschütterte. Hippokrates scheint gesagt zu haben: Wer Arzt ist und Philosoph, ist gottähnlich. So etwas fühlte ich in den Worten über Troxler. Die Beschreibung seiner Erkenntnistheorie durch Rudolf Steiner war für mich eine Offenbarung, ich lebte durch Jahre hindurch mit einem Satz daraus, und lebe noch immer damit. Ich werde diesen Abschnitt zitieren und den Satz hervorheben.
'Einer derjenigen Geister, von denen heute kaum gesprochen wird, ist Ignaz Paul Vitalis Troxler. Aus der Reihe seiner zahlreichen Schriften seien hier nur genannt seine 1835 erschienenen «Vorlesungen über Philosophie». Durch sie spricht sich eine Persönlichkeit aus, die durchaus ein Bewußtsein davon hat, wie der Mensch, der sich bloß seiner Sinne und des mit den Beobachtungen der Sinne rechnenden Verstandes bedient, nur einen Teil der Welt erkennen kann. Auch Troxler fühlt sich wie Immanuel Hermann Fichte mit dem Denken in einer übersinnlichen Welt drinnenstehend. Aber er empfindet auch, wie der Mensch, wenn er sich der Kraft entrückt, die ihn an die Sinne bindet, nicht nur sich vor eine Welt stellen kann, die im Hegelschen Sinne erdacht ist, sondern wie er durch diese Entrückung in seinem inneren Wesen das Aufblühen von rein geistigen Erkenntnismitteln erlebt, durch die er eine geistige Welt geistig schaut, wie die Sinne die Sinnenwelt sinnlich schauen. Von einem «übergeistigen Sinn» spricht Troxler. Und man kann sich auf folgende Art eine Vorstellung von dem bilden, was er damit meint. Der Mensch beobachtet die Dinge der Welt durch seine Sinne. Dadurch erhält er sinnliche Bilder von den Dingen. Er denkt dann über diese Bilder nach. Dadurch erschließen sich ihm Gedanken, die nicht mehr das Sinnlich-Bildhafte in sich tragen. Der Mensch fügt also durch die Kraft seines Geistes zu den Sinnesbildern die übersinnlichen Gedanken hinzu. Erlebt er sich nun in der Wesenheit, die in ihm denkt, so daß er über das bloße Denken zu geistigem Erleben aufsteigt, dann ergreift ihn von diesem Erleben aus eine innere rein geistige Kraft des Verbildlichens. Er schaut dann eine Welt in Bildern, die übersinnlich erlebter Wirklichkeit als Offenbarung dienen kann. Diese Bilder sind nicht von den Sinnen empfangen; aber sie sind lebensvoll wie die Sinnesbilder; sie sind nicht Ergebnisse einer Träumerei, sondern die von der Seele bildhaft festgehaltenen Erlebnisse in der übersinnlichen Welt.'
Die Anregung ist: Nicht nur zu denken über Sinneswahrnehmungen, sondern das Denken zu erleben, in der Wesenheit, die denkt - das bin ich ja selbst auf einer höheren Ebene. Dann wird dieses Erleben zu einem übersinnlichen Erleben und eine imaginative Kraft dadurch, dass dieses Erleben die Seele ergreift, und an der Stelle des intellektuellen Denkens kommt.
In unserer modernen Internet-Zeit ist es möglich geworden, die ursprünglichen Texte von Troxler online zu finden. Ich will mehr Texte von Steiner über Troxler und von Troxler selbst zitieren, in den kommenden Wochen.
Ignaz Paul Vitalis Troxler, geboren am 17. August 1780 in Beromünster, Schweiz; Gestorben am 6. März 1866, Aarau, Schweiz.
Eine vergessene Strömung im Schweizerischen Geistesleben Von Mieke Mosmuller