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Erkenne dich selbst!

Erkenne dich selbst!

Von

Mieke Mosmuller

25-03-2015 9 Kommentare Print!

Der menschliche Blick ist fortwährend nach außen gerichtet, und wenn er nach innen schaut, geschieht dies durchgehend, um die eigene Ehre zu betrachten und wenn nötig wiederherzustellen. Man kann das natürlich auch anders formulieren, man kann auch schönere Worte finden. Doch die Selbsterkenntnis ist in jedem Fall für gewöhnlich nicht objektiv. Das heißt, dass man als Mensch sich selbst nicht als Objekt betrachtet, sondern dass man mit seinem Subjekt sein Subjekt betrachtet.


Es gibt zwar objektive Regungen, die wie von selbst aufkommen. So gibt es zum Beispiel die Stimme des Gewissens. Diese spricht nicht von Ehre, sondern spricht von Würde, Wertigkeit. Und zwar nicht von dem Wert, den man sich selbst beimisst, sondern von dem Wert, die einem im großen Weltendasein objektiv zukommt. Das Gewissen spricht, wenn diese Würde vermindert ist oder zu werden droht. Es spricht aus eigener Bewegung.

Daneben ist in unserer modernen Zeit ein freier Impuls zu objektiver Selbsterkenntnis möglich. Das heißt, dass dieser Impuls nur da ist, wenn man diesen selbst initiiert. Die Objektivität wird durch die Tatsache garantiert, dass man einen Schritt im Innern setzt, der bewirkt, dass man das Objektivste in sich selbst als Objekt anschaut.

Das Objektivste in der menschlichen Seele ist das Vermögen, zu Wissen, zu Erkenntnis zu kommen. Es ist das Denken, das eine objektivierende Wirkung hat, weil es alles in ein Licht stellt, das für Jeden in der gleichen Weise scheint. Dass es auch Meinungsverschiedenheiten gibt, steht dazu nicht in Widerspruch. Denn Meinungen beruhen nicht auf purem Denken, sie sind vom Subjektiven aus geformt und werden subjektiv aufrechterhalten und sind der Untergrund für alle subjektiven Urteile. Wirkliches Erkennen ist etwas ganz anderes. Da sind es die Zusammenhänge in der Wirklichkeit selbst, die die Zusammenhänge der Gedanken bestimmen. Im reinen Denken, dem objektiven Erkennen, ist die Seele bereits in einem Element, das mit dem Selbst nicht zu tun hat.

Doch es kann noch ein Schritt gemacht werden, wodurch dieses Denken über alles andere außer das Selbst dennoch zu Selbsterkenntnis wird – die dann nicht anders als rein, ungetrübt sein kann. Die denkende Instanz kann sich selbst zu dem zu erkennenden Objekt machen. Das heißt, dass sie sich außerhalb ihrer selbst als Denker stellen muss, um sich als Denker anschauen zu können. Solange man in etwas ist, kann man es nicht anschauen. Man muss heraustreten und von außen betrachten.

Dann erweist es sich als eine erlebte Wirklichkeit, dass hier erst die echte Freiheit beginnt. Nicht eine Freiheit, die auf einer philosophischen Betrachtung des Begriffes 'Freiheit' beruht, oder eine Freiheit, die man als Vorstellung hat – sondern die echte erlebte Freiheit von allen subjektiven Beschränkungen.

Der anschauende Blick erweitert sich zu einem neuen schauenden Bewusstsein, das nicht mehr nur die denkende Aktivität anschaut, sondern das sich zu der Anschauung des Fühlens und Wollens erweitert – von außen betrachtet. Dann tritt allmählich eine moralische Selbsterkenntnis ein, ein neues, selbst impulsiertes Gewissen.

Selbstverständlich hat dieses ‚Gnothi seauton!’ dann das Gebiet der Philosophie verlassen. Es braucht dafür kein Orakel mehr, aber auch keine abstrakten philosophischen Theorien.

In der Zeit vor Ostern ist insbesondere diese selbst-initiierte Form des Gewissens wirksam. Und in einer vollkommen mit dem modernen Selbstbewusstsein in Übereinstimmung gebrachten Form tritt dann dasjenige auf, was früher in der Kirche geweckt wurde: Beichte und Buße, angehört und auferlegt durch das objektive menschliche Selbstbewusstsein.

Erkenne dich selbst!
Raffael, Schule von Athen (1509-1511)Erkenne dich selbst! Von Mieke Mosmuller

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Kommentare
  • Von Kurt Hofer @
    Wenn ich diese Zeilen lese, fällt mir zunächst auf, wie klar die Gedanken sind. Da scheint es jemand nicht nötig zu haben zu abstrahieren, um sich selbst Ehre zu verleihen. Wie ist das möglich? Ist es denkbar, dass hier ein Mensch schreibt, der diese Art der Selbsterkenntnis, von der er schreibt selber besitzt? "Solange man in etwas ist, kann man es nicht anschauen. Man muss heraustreten und von außen betrachten." Das muss es sein. Doch wie kommt man zu dieser Fähigkeit? Wenn diese zur moralischen Selbsterkenntnis, zum selbst impulsierten Gewissen führt, dann müsste darin eine unendliche Hoffnung für unsere geschundene Welt liegen. Kannst du uns dazu etwas sagen, liebe Mieke?
    • Von Lakatos Andras @
      Ja, einerseits mann kann nur von außen betrachten etwas kennenlernen, und sich selbst auch. Aber andrerseits muss haben die Fähigkeit ein zu werden mit was er will zu erforschen. Die so genannte Intuition . Denn nur wenn mann ist ein mit etwas, wenn kann vereinigen sich mit was er will wissen , oder kennenlernen dann kann nur verstehen das besser. Und niemals völlig, denn alles was es gibt endet bei Gott. Wir alle sind in das ein.
      • Von Mieke Mosmuller @
        In der Intuition vereinigt man sich mit dem Fremden, so vollkommen wie möglich und tatsächlich nie vollkommen genug. Das eigentliche Selbst ist in diesem Sinn auch ein Fremdes, das nur gefunden wird durch eine Loslösung vom alltäglichen Selbst, das ja Schein ist.
    • Von Mieke Mosmuller @
      Am kommenden Sonntag werde ich in Bern versuchen, diesem Thema mehr Inhalt zu geben, auch durch Übung. Durch das Sich außerhalb von der eigenen Seele Stellen, vereinigt man sich in einer neuen Art mit sich selbst.
  • Von Bernhard Vontobel @
    Sehr geehrte Frau Mosmuller, ich möchte Ihnen gerne folgende Fragen vorlegen: Wie vollzieht sich nebst der Höherentwicklung des Denkens die Höherentwicklung des Fühlens und des Wollens? Werden diese dadurch, dass das neue schauende Bewusstein die Anschauung des Fühlens und des Wollens vollzieht, gereinigt? Dann wären das Fühlen und das Wollen in gewissem Sinne Metmorphosen des neuen Denkens. Oder würde durch die neue Anschauung des Fühlens und des Wollens deutlich, welche je eigenen Gesetzmässigkeiten zu beachten wären, um die Fähigkeiten des Fühlens und des Wollens reinigen zu können? Besten Dank für Ihre Antwort und freundliche Grüsse! Bernhard Vontobel
    • Von Mieke Mosmuller @
      Das Denken ist mehr ein Fahrzeug um sich als Objekt anschauen zu lernen. Fühlen und Wollen sind eigene Welten, die aber durch das Erleben des Denkens und durch das Wollen des Denkens zuerst voll bewusst werden. Dadurch dass Fühlen und Wollen sich im Denken betätigen lernen, werden sie immer reiner. Aber es sind keine Metamorphosen des Denkens.
      Das Peinliche ist immer: sobald man versucht ein Solches aus zu sprechen, ist es schon unvollständig geworden...
      • Von Bernhard Vontobel @
        Danke!
  • Von Theophil Urech @
    Ist das nicht, sich als Wahrnehmender zu erkennen? Als Wahrnehmender des " eigenen denkenden seins?"
    Der Maler Giovanni Segantini spricht vom "Genuss intellektueller Empfindungen?"
  • Von gerard @
    Dank je wel Mieke voor deze tekst. Inderdaad (om te reageren op Kurt Hofer) erg heldere gedachten, maar meer nog, ze vormen een organisch geheel. En dat beleef je terwijl je deze tekst leest. Je merkt dat je in een ander element komt. Een element dat ik ken van de boeken van Steiner over Goethe's natuurwetenschappelijke werk, maar ook Mieke's boek over het communicatieve handelen van Habermas. Je merkt dat andere element eigenlijk meteen op als je met lezen begint. Dat element brengt ook een soort van gelukservaring met zich mee. Welnu, het moge duidelijk zijn, van dit soort teksten kan ik geen genoeg krijgen!