'Die Menschen haben das Denken sich allmählich überhaupt abgewöhnt und denken nur noch mit den Gedanken derjenigen, die sie als Autoritäten haben. Die Menschen müssen wiederum selber denken, müssen wiederum anfangen, jeder einzelne, selber zu denken, sonst werden sie, gerade wenn sie nichts wissen von der geistigen Welt, von ihr fortwährend beeinflußt, aber in schlechtem Sinne. '
Diese Worte von Steiner müssten in unserer Zeit eigentlich einmal gehört und verstanden werden. Das Problem mit der Anthroposophie ist, dass sie eine intellektuelle Art des Denkens zu verlangen scheint, um dann zu einem spirituellen Denken entwickelt zu werden. Aber das ist es nicht, was Steiner vor allem erwartete. Das Verlangte ist in Wirklichkeit sehr elementar und unkompliziert. Das Komplizierte folgt dann später. Rudolf Steiner sprach auf so elementare Weise vor den Arbeitern, die das Goetheanum bauten. In Wirklichkeit können wir ein spiritualisiertes Denken entwickeln, ohne über die geistige Welt sprechen zu müssen. Ein wichtiges Fundament für eine solche Aktivität muss dann sein, dass man schweigen kann, sowohl mit der Stimme als auch mit den Gedanken, die nun einmal immer kommen und gehen. Am Anfang haben wir dann also überhaupt keine Probleme mit unseren Freunden, die unsere spirituelle Sehnsucht nicht verstehen - denn wir schweigen über alles. Wir müssen natürlich denken, um das Denken entwickeln zu können, aber wir können es andererseits nicht zur Entwicklung bringen, wenn wir im Denken nicht still sein können. Diese Stille bedeutet dann, dass wir endlich selbst zu denken beginnen.
Wie ist es im Alltagsleben? Das Denken geht so von selbst, immer weiter, über Nichtigkeiten und in wichtigen Gedanken, in schönen und hässlichen Gedanken, in Wahrheit und in Phantasie. Wenn wir uns die Frage stellen, ob unsere Gedanken auch immer wahr sind, dann ist überhaupt keine Antwort möglich, denn wir träumen unsere Gedanken, und das bedeutet, dass kein unmittelbares Wissen über den Inhalt besteht. Natürlich wissen wir, was wir denken, bis zu einem gewissen Grade, aber nicht exakt und gewissensvoll. Darum ist es fast unmöglich, genau zu wissen, woher die Gedanken kommen, warum wir sie haben, was ihre Bedeutung ist. Wir haben unsere Meinungen, und wir können sicher sein, dass diese ihren Ursprung in der Erziehung, der Familie, dem Volk finden - und in den Gedanken, die aus den Medien kommen. Es gibt kein freies und selbständiges Denken in unseren Alltagsgedanken. Natürlich gibt es Unterschiede, die von unseren persönlichen Vorlieben und Abneigungen bestimmt werden. Aber diese Sym- und Antipathien werden von den allgemeinen Gedankenformen angezogen, die schon existieren. Es gibt ein ungeheures weltweites Netz - hier meine ich nicht nur das www-Web, sondern sehe es als eine Verwirklichung eines großen Gedankennetzes, das weltweit ist, mit klebrigen dünnen Fäden, denen wir mit unserem Denken folgen müssen. Wir selbst sehen nicht, dass wir von diesem Netz angezogen werden und dass es uns völlig unfrei macht. Wir sind wirklich in diesem Netz gefangen. Und so geschieht das, was Steiner vor etwa hundert Jahren sagte:
'Die Menschen haben das Denken sich allmählich überhaupt abgewöhnt und denken nur noch mit den Gedanken derjenigen, die sie als Autoritäten haben. Die Menschen müssen wiederum selber denken, müssen wiederum anfangen, jeder einzelne, selber zu denken, sonst werden sie, gerade wenn sie nichts wissen von der geistigen Welt, von ihr fortwährend beeinflußt, aber in schlechtem Sinne.'
Aber die Menschen bemerken nicht, dass ihr Denken in diesem Netz feststeckt und vorgegebenen Mustern folgt. Wenn man Diskussionen über allerlei Themen zuhört, dann wird deutlich, dass die Fäden zwar verschieden sind, dass aber das Wesen, das da gefangen ist, bei allen Teilnehmern der Diskussion dasselbe ist.
Wir müssten also lernen, selbständig zu denken. Um dies lernen zu können, müssen wir eine andere Gewohnheit verlernen - und das ist das Denken anhand der Fäden des Netzes - und diese durch das neue ersetzen. Dies wäre dann eine Art 'Programm', wodurch wir unser Denkleben in ein völlig neues Leben verwandeln können.
Aller Anfang ist schwer, aber wenn wir einmal den Beginn gefunden haben, dann finden wir etwas, das mit dieser neuen Gewohnheit einhergeht: Freiheit im Denken.
Hier ist eine erste - nicht leichte - Ãœbung, um sich aus dem Netz zu befreien:
Auf Deutsch: Morgen kommt der Weihnachtsmann... Mozart schrieb zwölf Variationen zum Thema, es heißt da: Ah, vous dirai-je, Maman.
Wer kennt dieses Lied nicht? Man braucht nicht die Noten. Wir können es singen, wieder und wieder, und immer besser darauf achten, wie die Klänge aufeinander folgen. Dies ist parallel zu dem gewöhnlichen Strom des Denkens möglich. Nun kehren wir den Strom in die entgegengesetzte Bewegung um, wir singen vom Ende zum Anfang - ohne die Noten. Natürlich müssen wir mit kleinen Stückchen beginnen, zum Beispiel vier Takten.
Den meisten wird es nicht direkt gelingen. Und man braucht etwas musikalisches Gefühl dafür. Aber wenn dies vorhanden ist, dann kann es gelingen, und man wird schließlich fühlen, was für eine Befreiung es ist!
Hat man dieses musikalische Gefühl nicht, dann kann man es auch mit einem langen Satz, also mit Text versuchen. Man spricht ihn aus und spricht ihn dann umgekehrt. Zuerst die Worte, schließlich vielleicht sogar die Buchstaben. Echte Freiheit entsteht, wenn man dies denkend tun kann - also nicht laut singend oder sprechend.
In der nächsten Woche werden wir diesem Pfad weiter folgen.
Das Zeichen von Veränderung.
Frei werden... Von Mieke Mosmuller