Denken ist eine rein menschliche Eigenschaft. Das Bewusstsein ist mit Gedanken gefüllt, sie gehen immer weiter, weiter, weiter, sie machen uns glücklich, sie bringen Stress, sie machen uns traurig. In der Nacht gehen sie weiter, obwohl unser Bewusstsein dessen schwindet. Nur in Träumen nehmen wir wahr, dass sie noch immer da sind, obwohl si sich in mehr oder weniger fantastischen Bildern zeigen. In dem Moment des Erwachens geht der Strom der Gedanken weiter, aber sie heften sich an die Sinneswahrnehmungen - sie werden dadurch zusammengehalten, konzentrieren sich.
Es gibt Momente, in denen wir aus diesem Träumen von Gedanken - dem Sinnestraum - erwachen. Dann bringen wir mehr Willenskraft in den Verlauf unserer Gedanken; wir entscheiden selbst mehr, was wir denken. Solche Momente gibt es, wenn wir einen Entschluss fassen, wenn wir eine Arbeit verrichten müssen, die das Denken erfordert, wenn wir anfangen zu studieren, wenn wir versuchen, zu verstehen, was wir lernen sollen.
Es gibt in uns eine Fähigkeit, noch einmal zu erwachen, nun aus diesem durchwollten Denken. Es ist ein Erwachen, das über das gewöhnliche wache Denken hinausgeht. Es ist ein Befreien des gewöhnlichen Denkens, das auf den plattgetretenen Pfaden der Erziehung, der Familie, des Volkes, der Wissenschaft usw. wandelt. Rudolf Steiner sagte einmal, dass es dies ist, was die Menschen am meisten fürchten, diese Freiheit im Denken. Nicht nur wird gefürchtet, dass eine 'Rasse' selbst denkender Menschen entstehen würde; es ist auch die Tatsache, ein individueller, selbständig denkender Mensch zu werden, die von jedem so gefürchtet wird. Es ist viel einfacher und erscheint viel sicherer, einfach mit dem Strom mitzutreiben und nie in diesem Strom auf zu stehen.
Die alte griechische Philosophie von Heraklit basiert auf dem Prinzip des Strömens, von 'panta rhei':
Ob wir auch in denselben Fluss steigen, es strömt immer wieder anderes Wasser.
In denselben Fluss steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.
Und in einem Zitat von Plato in seinem Dialog 'Kratylos':
Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Noch verstärkt in:
Man kann nicht ein einziges Mal in denselben Fluss steigen.Aber in unserer modernen Zeit können wir dieses Bild verändern:
Der Strom geht weiter, aber der Denker kann aufstehen und Gedanken formen, de er selbst formen will, ohne von dem Strom mitgerissen zu werden. Von diesem Punkt des Aufstehens aus können wir sogar gegen den Strom denken. Natürlich bedeutet dies nicht, dass wir auf eine irrationale oder unlogische Weise denken wollen, oder mit Begriffen, die nicht existieren. Wir wollen auf eine moralische und rationale Weise denken, aber wir wollen unsere Gedanken auf unabhängige Weise bilden. Angst hiervor führ dazu, dass wir mit diesem freien Denken nicht beginnen.
Vorige Woche schlug ich vor, dieses freie Denken auf eine unschuldige Weise zu üben, nämlich indem man ein einfaches Lied innerlich rückwärts singt.
Es gibt mehr Übungen, im Strom aufzustehen, aus der normalen Wachheit zu erwachen - in ein Denken, das nicht bestimmt ist, das sich aus der persönlichen Art, aus der Routine des Denkens befreit.
Man erinnere sich einmal an einen wichtigen Entschluss, gefasst in einer Zeit, die Jahre zurückliegt. Man weiß, wie sich sein Leben nach diesem Entschluss entwickelt hat. Man versuche nun einmal, sich auf diesen Moment des Entschlusses zu konzentrieren - und fasse einen anderen Entschluss. Man hätte diesen Entschluss fassen können, aber man hat es nicht getan. Es geht nicht darum, ob es ein besserer Entschluss gewesen wäre. Es geht darum, dass er anders wäre. Man versuche nun, sein Leben vorzustellen, wie es mit diesem anderen Entschluss hätte verlaufen können. Es ist eine Form der Phantasie, denn so ist es nicht verlaufen. Aber es hätte so gehen können. Während man über das Leben denkt, das man hätte haben können, befreit man sich aus dem Strom, in dem man steckt, aus dem eingeschliffenem Strombett - und nimmt eine andere Richtung.
Eine zweite biografische Möglichkeit, eine gewisse Freiheit in den Gedanken zu finden, ist, zu der Zeit zurückzukehren, wo man zwölf Jahre alt war, und zu versuchen, sich ganz mit den Erinnerungen an diese Zeit zu identifizieren. Man versuche, sich so lebendig wie möglich, daran zu erinnern, wie die Umgebung war: empfinde die Atmosphäre, rieche oder schmecke, was es damals zu riechen und zu schmecken gab, fühle die Emotionen und so weiter. Wenn man zugleich spüren kann, wie in diesem Moment das eigene Bewusstsein ist, während man sich all dieser Dinge erinnert, dann wird man eine Befreiung aus allen Phrasen, allen Konventionen, aller Routine empfinden, die sich im eigenen Leben an das Alltagsselbst geklebt haben.
Heraclitus in Raphael's Schule von Athen
Frei werden - Teil 2 Von Mieke Mosmuller