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Homo sapiens sapiens

Homo sapiens sapiens

Von

Mieke Mosmuller

06-08-2014 1 Kommentare Print!

Es ist ein faszinierender Ausdruck: Homo sapiens sapiens. Er verweist auf das Selbstbewusstsein des Menschen, verweist darauf, dass der Mensch nicht nur geboren ist, um weise zu werden, sondern dass es eine Weisheit gibt, die dieses ‚sapiens’ immer vollkommener macht. Dies ist die Weisheit, mit der der Mensch sich selbst erkennen kann.


In dem gewöhnlichen täglichen Leben haben wir ein natürliches Selbstbewusstsein. Dies ist eine Gabe der Natur. Wenn wir wach werden, wissen wir alle, dass wir da sind. Der Leib scheint uns diese Kenntnis über das Dasein zu geben. Wenn wir in den Schlaf fallen, dann vergessen wir, dass wir existieren; werden wir wieder wach, dann wissen wir es von neuem. Es scheint von einem physischen Gesichtspunkt so, dass dieses ‚sapiens sapiens’ uns durch bestimmte Aktivitäten der Sinne und des Gehirns gegeben ist.

Doch das Wissen, dass man da ist, kann man noch nicht Weisheit nennen. Wir sind mit einer noch höheren Möglichkeit begabt, zu wissen, dass wir existieren. Wenn wir den Terminus ‚sapiens sapiens’ ernst nehmen – und ich weiß natürlich, dass das, was ich hier sage, bei Einigen auf großen Widerstand stößt –, dann finden wir eine spannende Idee über das Menschsein. Denn es bedeutet, dass wir nicht nur die Möglichkeit haben, zu wissen, dass wir existieren, sondern dass wir darüber hinaus die Möglichkeit haben, zu wissen, dass wir immer weiser und weiser werden können, und zu wissen, dass wir dieses Wissen von uns selbst auf eine weise Art haben können: ‚sapiens sapiens’.

Von dem Moment an, wo ich mir dessen bewusst wurde, empfand ich eine Art moralische Berührtheit. Es bedeutet schließlich, dass es eine Möglichkeit gibt, eine Sicht auf die zunehmende Weisheit des Menschen zu bekommen. Dann haben wir jedoch auch das Vermögen, den Mangel an Weisheit zu sehen, die Abwesenheit oder den Mangel eines Wissens bezüglich der Wahrheit.

Ich sehe es als den ersten Schritt auf dem Weg vom Homo sapiens zum Homo sapiens sapiens an, dass der Mensch sich bewusst wird, dass ihm etwas fehlt. Ich meine, dass es für den Menschen möglich ist, sicher zu wissen, dass er eine bestimmte Einsicht oder eine bestimmte Kenntnis oder Wahrheit nicht besitzt. Die erste Wahrheit, die der Mensch mit Sicherheit haben kann, ist: Ich kenne die Wahrheit in einer bestimmten Situation oder bei einer bestimmten wissenschaftlichen Fragestellung oder bei einem bestimmten politischen Problem nicht. Das ist zwar eine negative Wahrheit, aber dennoch eine Wahrheit. Es ist die erste Lektion im Weisewerden bezüglich der Weisheit, dass man lernt, sich bewusst zu sein, wann man etwas nicht völlig wissen kann, wann die eigene Kenntnis unvollständig ist.

Der Weg, auf dem wir lernen können, in Bezug auf den Besitz der Wahrheit ehrlich gegenüber uns selbst zu sein, ist, dass wir lernen, uns bewusst zu sein, dass wir da sind, aber nicht nur als ein physisch existierendes Wesen, sondern zugleich als ein erkennendes moralisches Wesen. Dieses Bewusstsein kann immer heller und differenzierter werden, eine wachsende Weisheit menschlicher Weisheit, die dann eine moralische Weisheit ist.

Man entwickelt ein neues Sinnesorgan, einen weisen Sinn, der geeignet ist, die Weisheit gewahr zu werden. Durch die Entwicklung dieses Sinnes findet man den wahren Begriff dessen, was ‚Glaube’ genannt wird. Wenn wir einen klaren Begriff von ‚Glaube’ finden können, können wir lernen, zwischen einer Wahrheit, an die man glaubt, und einer Wahrheit, deren man sicher ist, zu unterscheiden. Dies ist kein Gewahrsein, das Ähnlichkeit mit dem hat, was man ‚mindfulness’ nennt, es ist vielmehr ein ‚gedankenvolles Denken’, das mit jedem Schritt, der gemacht wird, an Klarheit zunimmt.

Das zweite ‚sapiens’ bringt uns auf ein höheres Niveau als das ausschließlich physische menschliche Niveau. Das menschliche Denken wird zur Weisheit des Weise-Seins.
Das ist es, was wir entwickeln müssen, um sicher zu sein, dass wir die Wahrheit in jener Schicht des Denkens suchen, die wirklich zur moralischen Menschlichkeit gehört. Es ist ein selbstbewusstes Denken, in dem wir lernen können, zwischen der Wahrheit auf der einen Seite und den Zweifeln oder dem bisher unbewussten Glauben, der unsere Wahrhaftigkeit verschleiert, auf der anderen Seite zu unterscheiden. Wir brauchen diese Unterscheidungen, um zu einem Bewusstsein über die verschiedenen Schichten zu kommen, in denen man denken kann – oder gedacht werden kann.
Im nächsten Text will ich versuchen, darauf hinzuweisen, wie die Wissenschaft teilweise auf Glauben und nicht nur auf Beweisen basiert.

Homo sapiens sapiens
Verkündigung von Fra Angelico (um 1450).Homo sapiens sapiens Von Mieke Mosmuller

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Kommentare
  • Von Simone @
    Liebe Mieke,
    hab Dank für deine immer weitergeführten Gedanken, wie du sie in diesem Blog andeutest.

    Zum "Homo sapiens sapiens" möchte ich aktuell noch dazustellen den "Homo liber" - einen anderer Begriff (oder eine Begriffsschöpfung?) für den Menschen, zu dem der Mensch seit dem Mysterium von Golgatha werden kann. Bei Gennadij Bondarew in "Organon der neuen Kulturepoche" spielt dieser Begriff immer wieder eine große Rolle. Immerhin ist dieses Buch seine Aufarbeitung der "Philosophie der Freiheit" von Rudolf Steiner. Dort, bei diesen beiden Autoren wie auch bei dir, habe ich viele Früchte gefunden von dem, was du hier "den weisen Sinn" nennst.

    Zu dem, was du zu Weisheit und Glaube sagst, übe ich gerade intensiv mit dem, was Rudolf Steiner zum Erleben von Sophia und Pistis sagt in seinem Vortrag vom 26.03.1922 in GA 211. In diesem Buch findet sich sehr viel Aufschlussreiches genau dazu.
    Danke, dass du aktuell dazu hier arbeitest.

    Liebe Grüße.
    Simone