Vor einigen Jahren habe ich eine Zeitlang ,mindfulness’ (Achtsamkeit) geübt, weil ich so viel darüber hörte und weil diese Meditation auch in der medizinischen Welt eine gewisse Akzeptanz genießt, als ein günstiger Einfluss auf Körper und Geist. Ich wollte dies kennenlernen. Ich kaufte ein Buch von Jon Kabat-Zinn und begann zu üben. Wenn ich einen spirituellen Weg kennenlernen will, will ich nicht nur darüber lesen, sondern diesen auch üben. Das Lesen allein gibt nicht die volle Erfahrung, was das wirklich ist, worüber man liest...
So lernte ich die besondere Aufmerksamkeit in der sinnlichen Wahrnehmung kennen, ebenso das Gewahrsein von Gedanken und Gefühlen.
Niemand würde behaupten können, dass diese Methode nicht das ,Da-Sein’ im Leben verbessert, ebenso wie das Gefühl von Wohlbefinden in dieser wunderbaren Schöpfung, die wir Welt und Ich nennen. Mindfulness scheint eine Antwort auf den immer weiter zunehmenden Stress im modernen Leben und all die Krankheiten, die damit einhergehen, zu sein. Ohne diese geübte Aufmerksamkeit gehen wir auf in unseren Gedanken über uns und unser Leben, und wir würden vergessen, dass eine ganze Welt von Schönheit um uns herum existiert, eine Welt, die unsere Andacht braucht.
Aber ... beim Tun dieser Übungen wurde mir natürlich der Unterschied zur anthroposophischen Meditation deutlich, die ich schon mehr als dreißig Jahre übe. Mit Blick auf den Erfolg der Mindfulness und das geringe Interesse für die wirkliche anthroposophische Meditation muss ich über diesen Unterschied doch einmal schreiben und sprechen. Ich will angeben, warum Mindfulness eine einseitige, eine extreme Methode ist, die nicht nur segensreiche Resultate gibt, sondern die langfristig zugleich zu einem wesentlichen Verlust führen wird.
Es ist wahr, dass wir in Gedanken versunken durch das Leben gehen, auch versunken in die Verlängerungen unserer Gedanken (ich meine das Smartphone in unserer Hand). Wir vergessen die Umgebung, wir vergessen unseren Körper, wir vergessen manchmal sogar, dass wir da sind. Und so scheint der einzige Weg zur Heilung zu sein: den Weg zu den Sinnen wiederzufinden, zu einem andächtigen In-der-Welt-Sein.
In der Anthroposophie wollen wir auch eine gesteigerte Aufmerksamkeit entwickeln, die bis ins Unendliche wachsen kann. Aber es gibt einen großen Unterschied. Wir werden nicht zu einer rein sinnlichen Wahrnehmung aufgerufen, wir werden zu einer denkenden Andächtigkeit aufgerufen. Nicht ein Versunkensein in Gedanken, sondern ein ,mindful thinking’ der Wahrnehmung ist es, was wir entwickeln wollen. Und wir tun dies, indem wir uns im Denken wirklich engagieren. Wir lassen die Gedanken nicht an uns vorbeiziehen, wir tauchen darin unter und nehmen wie als unsere Verantwortlichkeit, wir wollen die Gedanken mit andächtigem und gewissenhaftem Willen, Aktivität, entfalten. Wir wollen nicht vergessen, dass Denken die Hälfte der ganzen Welt ist. Wir können nicht einfach so behaupten, dass das ,Dasein’ nur mit der Sinneswahrnehmung und mit der Andacht dafür zu tun hat. Es gibt eine ganze Welt, die ebenfalls da ist, die wir vergessen wahrzunehmen: Es ist die Welt unseres menschlichen Denkens. Und wir müssten eigentlich erkennen, dass es nicht möglich ist, zu erschaffen, was unsere Sinne wahrnehmen – aber dass es sehr wohl möglich ist, das Denken zu erschaffen. In der Wahrnehmung des Denkens nehmen wir etwas wahr, dass wir selbst hervorgebracht haben, das wir erschaffen. Und es ist die Hälfte der Welt, all dieses menschliche Denken – das sich unserer Aufmerksamkeit entzieht, das sich unserer gewissenhaften Andacht entzieht.
Ich will darum ein kräftiges Plädoyer für ein ,mindful thinking’ halten, ein mit aufmerksamer Andacht gestaltetes Denken, wodurch wir eine andächtige Weise des Lebens erschaffen, die die ganze Welt umarmt, das Denken inbegriffen. Dann werden wir nicht an der Seite stehen, sondern wir werden zugleich in einem andächtigen Denken der Wahrnehmung mit den Sinnen aktiv werden.
Leben mit Andacht Von Mieke Mosmuller