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Parzival und Amfortas - Mitleid

Parzival und Amfortas - Mitleid

Von

Mieke Mosmuller

23-11-2016 1 Kommentare Print!
Die Gewohnheit, das eigene Ich in Bezug auf das andere Ich in der Begegnung als vollkommen gleichwertig zu erleben, kann sich zu viel weitgehenderen Gedanken und Gefühlen erweitern, die nicht nur die andere Individualität umarmen, sondern die ganze Familie, alle Freunde, alle Kollegen, alle Menschen in der ganzen Welt.
 
Die mächtige Geschichte von Parzival, der den heiligen Gral sucht und der dem verwundeten Amfortas Heilung bringt, ist ein Bild für diesen Prozess. Amfortas hütet den heiligen Gral, aber er hat diese Aufgabe zu einer sehr schmerzvollen Aufgabe gemacht... Er wurde von Klingsor verführt, jenem Mann, der sich nach dem heiligen Gral sehnt, aber kein Gralsritter werden kann, weil seine Seele nicht rein ist. Ihm fehlt der Mut, den langen Weg zu dieser Reinheit zurückzulegen. Statt dieser mühsamen Reinigung meint er, es sei genug, wenn er sich selbst kastriert. Doch natürlich ist dies nur eine Vermaterialisierung dessen, wonach in Wirklichkeit gestrebt werden muss. So wird Klingsor der Feind der Gralsritter und versucht, sie zu unreinen Taten zu verleiten. Mit Hilfe von Kundry bringt Klingsor Amfortas’ Moral zu Fall, er wird verwundet und muss auf einen Jüngling warten, von dem gesagt wird, dass er durch Mitleid wissend ist, ein reiner Tor. Dieser Jüngling ist Parzival.
 

In der Parzivalsage sehen wir eine Polarität: Amfortas ist ein weltweiser Mann, aber er ist nicht rein, er ist das Bild des Menschen, der viel über die Welt und vom Leben weiß, der nicht mehr naiv ist, der durch sein Wissen kritisch ist. Aber Gralskönig kann er nicht sein, denn er ist nicht rein. Parzival ist rein, aber er kennt die Welt noch überhaupt nicht, darum ist er ein Tor. Seine Weisheit schläft in seinem Gefühl, das rein ist: er ist weise durch Mitleid.


Die eine Seite dieser Polarität ist der Mensch, der ein breites weltliches Wissen hat, der aber nicht zu Wissen durch Mitleid, durch Mitgefühl imstande ist. Die andere Seite dieser Polarität ist der Mensch, der zu diesem Wissen aus Mitgefühl imstande ist, der aber nicht weltlich ist, der, was die Welt betrifft, ‚unschuldig’, ein Tor ist.

In der Begegnung des einen Ich mit dem anderen Ich haben wir den Parzival-Zustand angenommen. Parzival, der zum ersten Mal in die Gralsburg kommt ... wir haben alles weltliche Wissen vergessen, das müssen wir, um zu dieser Begegnung zu kommen. Und doch ist es ein Extrem. Letztlich müssen wir jener Parzival werden, der Gralskönig geworden ist, der Amfortas durch sein Mitleid geheilt hat. Wir müssen die Frage stellen lernen: Woran leidest Du?

Dann ist natürlich das Hören und Begreifen der Antwort allein nicht ausreichend. Das Mitleid wird uns zu dem tiefen Mitfühlen des Leides führen, und dieses Leid wird auch für uns bestehen bleiben, solange der Nächste leidet. Wir werden lernen müssen, aus demselben Kelch zu trinken... Anfänglich wird es sehr weh tun, aber dieser Schmerz wird sich in eine neue Form von Seligkeit verwandeln – die Seligkeit des heiligen Grals, der die Seligkeit wahrhaftiger Brüderlichkeit ist.

Parzival und Amfortas - Mitleid
Das Mitleid von Bernhard de Clairvaux.Parzival und Amfortas - Mitleid Von Mieke Mosmuller

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Kommentare
  • Von Theophil @
    Man lese dazu von Rainer Maria Rilke: Brief an Clara Rilke, Paris, 19. Okt. 1907