Ratio

Wer diese Koronakrise mit kritischem Blick betrachtet, wird langsam fassungslos. Die erste Welle war vorbei, und wir haben diese Welle ertragen, wie auch immer. Vor allem haben wir die extremen Maßnahmen ertragen, deren Folgen wir noch zu bewältigen lernen müssen. Für einen Moment schien es eine Ruhephase zu geben, aber bald gab es überall Berichte über Neuinfektionen und weitere Infektionen. Warum fassungslos?

Nicht wegen der zweiten Welle, sondern wegen der Tatsache, dass einem für den Prozess, den wir durchlaufen, die Worte ausgehen.

Wir können uns wirklich darüber beklagen, dass die Menschen aufgehört haben zu denken. Mit dem Verstand zu denken ist immer eine Suche nach Proportionen, Verhältnisse, deshalb wird der Verstand Vernunft, aber auch Rationalität genannt. Ratio bedeutet schließlich Verhältnis. Wenn Sie Zahlen anzeigen, dann müssen Sie diese nicht nur in den Kontext der Zahlen stellen, sondern auch angeben, worauf genau diese Zahlen zutreffen. Wie ist das Verhältnis der Zahlen zu anderen Zahlen: 100.000 Todesfälle werfen die Frage nach dem Verhältnis auf: Wie groß ist die Bevölkerung? 100.000 Todesfälle bei 200.000.000 Menschen unterscheiden sich proportional nicht so sehr von 6.500 bei 17.000.000 Menschen. Das sollte erwähnt werden: das Verhältnis.

Auf der anderen Seite werden die Verhältnisse grotesk hochgerechnet: Eine infizierte Person wurde in einem Dorf gefunden, bei einer Bevölkerung von 2.700 Einwohnern. Umgerechnet auf 100.000 Einwohner sind das jedoch 36 infizierte Fälle - rein hypothetische Arithmetik, ohne jeglichen Zusammenhang mit der tatsächlichen Zahl der infizierten Fälle. 36 per 100.000 ist jedoch Code orange, wenn Sie die Obergrenze von 20 bis 100.000 verwenden. Das Dorf ist also eine ernste Gefahrenzone.

Wenn man von positiven Tests spricht, erweckt man den Eindruck, dass man von Krankheitsfällen spricht. Wenn es in den Niederlanden an einem Tag 300 weitere Infektionen gibt, dann kommen uns die Bilder in den Sinn, die wir so zahlreich gesehen haben, von überfüllten Intensivstationen mit Pflegepersonal in Mondanzügen, das für das Leben, gegen den Tod kämpft. Wo sind die Proportionen? Positive Tests bedeuten nicht, dass man von Krankheiten spricht, und es ist natürlich offensichtlich, dass man, wenn man immer mehr Tests durchführt, immer mehr nicht-symptomatische Fälle entdeckt, Menschen, die positiv auf den Test reagieren, ohne krank zu sein oder zu werden. Diese Menschen sind selbst nicht ansteckend. Darüber hinaus ist der Test wegen falsch positiver Ergebnisse bekannt.

Wenn man das nicht dazu sagt, ist die Furcht da, dass eine zweite Welle eintritt, die doch vorhergesagt wurde.

Wenn man von 94.000 Todesfällen in Brasilien spricht, wo der Präsident 'unverantwortlich mit dieser Krankheit umgeht', ist das eine erschreckende Zahl - aber man muss diese Zahl mit der Einwohnerzahl desselben Landes in Beziehung setzen. Die ist sehr groß, 275 Millionen Einwohner: 275.000.000!

Wenn man an ein Land wie die Niederlande mit 17 Millionen Einwohnern und zwischen 6000-7000 Todesfällen denkt, ist es das Verhältnis, das zählt, wenn man ein Land mit einem anderen vergleichen will. 275000000:94000 = etwa 1 auf 2900 Einwohner. 17000000:6500 = etwa 1 von 2600 Einwohnern, was bedeutet, dass die Sterblichkeit pro Einwohnerzahl in den Niederlanden sogar noch etwas höher liegt.

Vor vielen Jahren, zu der Zeit, als Dan Brown seinen Bestseller The Da Vinci Code schrieb, schrieb ich ein Buch über den Heiligen Gral. In der Einleitung dazu musste ich über das Wissen um, die Einsicht in das Leben schreiben. Dieses Wissen, diese Einsicht fehlt völlig in der Naturwissenschaft, auch in der Medizin, in der Statistik, in der Epidemiologie, in der Virologie, weil man das Leben nicht wahrnehmen kann, sondern nur die Ausdrücke dieses Lebens beobachten und sie so gut wie möglich abbilden kann. Auf der Grundlage dieses indirekten Wissens könnte man aber immer noch in Proportionen denken.

Wenn man eine Infektionswelle registriert und von einer zu erwartenden zweiten Welle spricht, muss man die Tatsache berücksichtigen, dass der Mensch ein Lebewesen ist, dass er kein wirkungsloses mechanisches Gerät ist, dass er also, wenn man ihm einen Schub gibt, nicht nur mechanisch auf diesen Schub reagiert.

Wenn Sie einen Stein in stilles Wasser geben, dann bewegt sich das Wasser durch den Stein, es entsteht eine kreisförmige Wellenbewegung, die ein gesetzmäßiges Muster zeigt.

Wenn in der Weltbevölkerung ein Stein in Form einer ansteckenden Krankheit geworfen wird, dann gibt es auch Wellen, aber das Muster, das dabei entsteht, wird nicht nur durch den Erreger bestimmt, sondern auch durch die Masse der Menschen, die darauf reagiert. Dann meine ich nicht, dass die Menschheit mit allen möglichen Maßnahmen reagiert, sondern dass eine biologische Reaktion stattfindet. Das ist ein Wunder, das die Wissenschaft noch nicht ergründet hat, das aber, wie gesagt, nur in seinen Auswirkungen bekannt ist.

Wenn man nun die Bewegungen des Lebens etwas kennen gelernt hat - dafür muss man kein Virologe oder Epidemiologe sein -, dann weiß man, dass das, was eine zweite Welle aufgrund desselben oder des mutierten Erregers bewirkt, niemals so stark oder gar stärker werden kann wie die erste Welle, die mehr oder weniger überraschend kam.

Einerseits geht es darum, meint man, zu impfen, um den Körper mit diesem Virus vertraut zu machen, damit er im Falle einer Infektion nicht erkrankt - dieses Prinzip beruht auf einem gewissen Verständnis der Reaktion eines lebenden Organismus auf einen solchen Angriff -, andererseits wird mehr oder weniger geleugnet, dass die Zirkulation eines Pandemievirus in der Menschheit eine natürliche Immunität schafft, die durch eine Impfung niemals erreicht, geschweige denn übertroffen werden kann. Es stellt sich heraus, dass sich viele Menschen mit dem Virus anstecken, ohne krank zu werden - warum freuen wir uns nicht darüber und ziehen es vor, die Entwicklung einer natürlichen Immunität mit aller Macht zu verhindern? Die zweite Welle gibt die Immunität, gibt nicht eine weitere Welle von Todesfällen. Wo sind die Proportionen?

Unterdessen gelten diejenigen, die in Proportionen denken, als irrational. Aber genau das war das rationale Element des Verstands, war die Vernunft?