In der Bhagavad Gita, diesem altindischen, hinduistischen spirituellen Text, finden wir die vollkommene Verwirklichung des “zweiten sapiens”, des weisen inneren Sinns, der veräußerlicht als spirituelle Kraft – unsichtbar für physische Augen – hinter Krishna lebt. Krishna erscheint hier als eine Inkorpration oder möglicherweise sogar Inkarnation der völlig verwirklichten Kraft der schöpferischen Weisheit, der menschlichen Weisheit, die einen göttlichen Ursprung hat. “Gottmensch” wird er genannt, und wir können ihn als eine Imagination des universellen Menschen betrachten, der schon am Anfang da war.
In meiner Anschauung ist Krishna die Imagination des Vermögens, weise zu werden, eine Weisheit, die schöpferische Kraft hat. Ich sehe diese Weisheit als eine Gabe, die in der alten, vorchristlichen Zeit noch eine unpersönliche göttliche Gabe war, als Gottmensch Arjuna, dem Krieger, erscheinend. Durch die Gabe von Christus, dem “Menschensohn”, der auf die Erde kam, durch den Tod und die Auferstehung ging, ist diese Gabe nun persönlich zu erwerben. In Krishna sehen wir diese Gabe, dieses Vermögen, in einem menschlichen Wesen, das sich als ein übermenschliches Wesen erweist, dem Menschen gegenübergestellt. In diesem Bild steht Krishna Arjuna gegenüber, er ist kein eigenes Vermögen von Arjuna, sondern steht ihm in seiner ganzen Glorie gegenüber. Arjuna kennt Krishna im gewöhnlichen Leben als seinen Freund und Lehrer, nun wird ihm sein wahres Wesen offenbart. Was wir hier als Offenbarung kennen lernen, können wir als eine Möglichkeit ansehen lernen, die in jedem Menschen schlummert. Diese Möglichkeit kann in jedem zur Verwirklichung kommen, der aus Freiheit die ersten Schritte auf dem Weg zu ihrer künftigen Verwirklichung setzt. Arjuna hat sich selbst gegenüber dasjenige, was wir in uns als schlummernde Kapazität haben.
Kapitel 11
'Arjuna sagte:
Da mir zu Liebe du das Wort, das höchst geheimnisvolle, sprachst,
Das höchsten Geistes Siegel trägt, bin ich von allem Irrtum frei.
Der Wesen Werden und Vergehn hab' ich ausführlich nun gehört,
Von dir, du Lotusäugiger, – und deine ew'ge Herrlichkeit.
So wie du hier geschildert hast dich selbst, du höchster aller Herrn,
So möcht' ich schaun deine Gestalt, die göttliche, du höchster Geist!
Wenn du's für möglich hältst, daß ich dies schauen kann, du Mächtiger,
Dann, Herr der Andacht, zeige mir dich selber als den Ewigen!
Krishna antwortete:
So schau denn die Gestalten mein hundert- und tausendfältig hier,
Die mannigfalt'gen, himmlischen, in Farb' und Form verschiedenen.
...
In Einem schau die ganze Welt, was sich bewegt und nicht bewegt,
In meinem Leibe sieh das hier, und was du sonst noch sehen magst.
Doch wirst du mich nicht können sehn mit diesem deinem eignen Aug', -
Ein himmlisch Auge geb' ich dir, – schau mein, des Herren, Wundermacht!
...
Aus Gnaden hab' ich dir nun offenbaret
Mein höchstes Wesen hier, kraft meiner Allmacht, -
Strahlend, unendlich, ganz und uranfänglich, -
Kein andrer hat vor dir sie je gesehen.’
Und am Ende sagt Krishna nochmals:
‘Die schwer zu schauende Gestalt, die du von mir gesehen hast,
Nach deren Anblick sehnen sich sogar die Götter immerfort.
Durch Veden nicht, durch Buße nicht, durch Spenden und durch Opfer nicht
Bin ich in dieser Form zu schaun, wie du mich jetzt gesehen hast.
Nur wer mich ganz allein verehrt, der kann mich schaun in solcher Form,
Kann mich erkennen ganz und gar und endlich eingehn auch in mir.
Wer handelt so, wie's mir gefällt, mich ehrt, mich liebt, die Welt verschmäht,
Und allen Wesen freundlich ist, der kommt zu mir, o Pându-Sohn!’
Krishna offenbart Arjuna sein wahres Wesen.Schöpferische Weisheit Von Mieke Mosmuller