Welche Substanz ist das Material für die soziale Kunst? Der Architekt verwendet die physischen Gesetze, um Gebäude aus Stein oder Holz oder anderem Material zu entwerfen. Der Bildhauer hat als Substanz Material wie Marmor, Stein oder Holz und muss bis in die Hände hinein ein Wissen von den formenden Kräften haben. Der Maler hat als Material die Öl- oder Wasserfarben, aber seine Substanz ist die Farbe selbst. Der Komponist muss die Musiktheorie kennen, aber seine Substanz besteht aus Tönen, Intervallen, Rhythmus, Takt. Der Dichter muss eine Kenntnis der Vokale und Konsonanten, des Metrums, der Rhythmen usw. haben, aber seine Substanz ist das Wort als ein aussprechbares und zu verstehendes Wort. Eine ziemlich neue Kunst ist die Eurythmie. Der Künstler dieser Kunst muss alles, was möglich ist, über das aus Vokalen und Konsonanten bestehende Wort wissen, muss innerlich erleben können, was diese Klänge sind, aber die Substanz ist die Bewegung des menschlichen Leibes. Der Eurythmist muss hierin künstlerisch ausdrücken können, was die menschliche Sprache ist.
Was ist nun die Substanz der sozialen Kunst? Es muss die Liebe sein, nicht mehr und nicht weniger als wahrhaftige Liebe. Nicht die leibliche Liebe mit einem mehr oder weniger geliebten Partner. Nicht die idealistischen grandiosen Ideen, die nie realisiert werden können. Nicht der ideale Staat von Plato oder das Utopia von Thomas Morus. Nicht eine Hoffnung auf globale Liebe und Frieden. Es muss wahrhaftige Liebe zwischen dir und mir, zwischen dem Einen und dem Anderen sein. Es muss also sehr bescheiden sein, wirksam in einem kleinen Kreis – der weiter und weiter wird, das schon.
Was tut der Künstler? Er formt die Substanz so, dass diese eine vollkommenere Form bekommt, als sie die Natur je erreichen kann. Die Natur nimmt die Liebessubstanz und formt neue Menschen mit Hilfe dieses Mediums. Vollkommener geht es nicht, könnte man sagen. Dennoch ist es für den Menschen möglich, die Liebessubstanz so zu formen, dass diese zu Begegnungen zwischen Menschen führt, die ‚nicht natürlich’ sind, nicht gebunden an das Schicksal, sondern die übernatürlich sind, die dessen Bande überwinden und zerbrechen, die mehr daraus machen, als es die Natur je könnte. Es entsteht durch diese Form der Liebe kein neues physisches Menschenwesen, sondern eine neue Form menschlichen Seins.
Liebe ist: immer wieder von neuem beginnen, ohne Erinnerung an all den Schmerz, der gewesen ist, immer wieder alle Sorgen und alles Leid vergessen – einfach von neuem anfangen, mit all dem Optimismus des jungen Kindes und der Weisheit des alten weisen Mannes oder der alten weisen Frau... Die Ehrfurcht, die Verwunderung, das offene Fragen, während man hört und schaut, das absolute Vertrauen in die Erfüllung der höchsten Liebe, die zwischen Menschen möglich ist, sind die Instrumente, um der Substanz Form zu geben. So wächst ein unüberwindlicher sozialer Optimismus – weil alle Erfahrungen im Leben, die diesem Optimismus widersprechen, dennoch nie zu Pessimismus führen. In jedem Moment entsteht eine neue Gelegenheit – der man mit Ehrfurcht, Verwunderung, offenem Fragen und absolut optimistischem Vertrauen begegnet.
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Michelangelo, Detail der Erschaffung Adams (Sixtinische Kapelle in Rom).
Sozialer Optimismus Von Mieke Mosmuller