Aus: Vorlesungen über Philosophie von Ignaz Paul Vitalis Troxler
6. Vortrag S. 81
'Es handelt sich um eine der Art und dem Wesen nach verschiedene Erkenntnis. Sinn und Geist aller göttlichen Offenbarung kann nur von einem höhern, innern, über apriori und aposteriori, über wirkliche Vernunfteinsicht und blossen Sinnesglauben erhabenen, ich möchte sagen, übersinnlichen Geist und übergeistigen Sinn der menschlichen Natur erfahren und verstanden werden.
S. 81/82
Lavater sagt: «Wir haben einen Freund in uns - ein zartes Heiligtum in unsrer Seele, wo die Stimme und Absicht Gottes lange Zeit hell und klar widertönt. Die Alten nannten sie den Dämon, den guten Genius des Menschen, dem sie mit so vieler Jugendliebe huldigten, mit so vieler Ehrfurcht folgten. Christus begreift's mit dem klaren Auge, das des Lebens Licht ist, und den ganzen Leib licht macht. David bittet darum, als um den guten freudigen Lebensgeist, der ihn auf rechter, ebener Bahn führe. Mögen wir's Bewusstsein oder Gewissen, innern Sinn, Verstand oder Vernunft, oder Logos, oder wie wir wollen, nennen; genug, es spricht laut und deutlich, zumal in der Jugend, ehe es durch wilde Stimmen von aussen und innen, durch klügelndes Geschwätz der Unvernunft, oder das Gebrause der Leidenschaft allmählich geschweigt oder irre gemacht wird. Wehe dem, bei dem es so stumm oder irre gemacht wird! Er wird allmählich ohne Gott in der Weh, geht wie ein irres Schaf umher, ohne gesunden, intellektuellen und moralischen Sinn, ohne das Deion in einer Sache des Lebens an sich und an andern zu fühlen. Nur so viel haben wir von Gott und seiner Vorsehung, als wir lebendig erkennen, und zwar im Einzelnen wie im allgemeinen. Je mehr wir, ohne Schwärmerei und Seelenkälte tätig, ersehen, wie und wozu er mit uns handle, desto mehr ist er unser, unser allein, und wir sein. Lass nun einen Schwätzer und Zweifler dagegen sagen, was er will; diese innerste Erfahrung geht über Geschwätz und Zweifel.»
S. 82
Habe ich aber recht gemeint, dann gibt es noch was Höheres, als nur die Einheit von Vernunft und Freiheit im Menschen. Unsere christlichen Alten nannten dies Höhere Glaube und Gnade. Nicht weil die Namen in der neuen Welt verrufen oder verschollen sind, sondern weil ich die Bezeichnung für richtiger halte, möchte ich es die eingepflanzte, aber verborgene göttliche Natur in der menschlichen Natur nennen. Es ist das Licht des göttlichen Geistes in uns. Wer mit diesem Lichte geht und in seiner Kraft wirkt, der versteht das Evangelium, dem offenbart sich Gott durch Christus, und die Propheten und Apostel, der wird in sich selbst aus einer Klarheit in die andere geläutert, der erfährt seinen Ursprung und seine Bestimmung, der ist weise und selig.
Vorlesungen über Philosophie - über Inhalt, Bildungsgang, Zweck und Anwendung derselben aufs Leben; Bern 1835, Nachdruck 1942, PDF (Agraffenverlag).
Johann Kaspar Lavater, Philosoph, Prediger und Dichter.
Geboren: 15. November 1741, Schweiz
Gestorben: 2. Januar 1801, Zürich, Schweiz
Troxler und Lavater Von Mieke Mosmuller