Heute Abend (14 Dezember) werde ich in Amsterdam einen Vortrag über ,mindful thinking’ geben. In den östlichen spirituellen Traditionen wird Denken meistens als das Haben von Gedanken angesehen. Und Gedanken verhindern ein andächtiges Wahrnehmen von etwas anderem als man selbst. In Gedanken versunken sein, bedeutet, versunken sein in sich selbst. Nicht, dass es immer angenehm ist, in sein eigenes Sein vertieft zu sein – aber es führt aber von der Welt, so viel ist sicher. Und so scheint es notwendig zu sein, aus diesen Gedanken herauszutreten und die Sinne gedankenlos für die Welt zu öffnen – und dann auch wieder für uns selbst.
Aber es gibt eine andere Art des Denkens – das auf den ersten Eindruck vielleicht noch schlimmer zu sein scheint als das Haben von Gedanken. Es ist das begreifende Denken. Das wissenschaftliche Denken, das mathematische Denken. Das notwendige Denken, durch das wir wissen, wo wir sind, wer ich bin, wer du bist, welcher Baum dies ist und so weiter. Es ist das Denken, durch das ich weiß, dass ich das Zimmer durch die Tür verlassen muss und nicht durch die Wand. Dieses elementare erkennende Denken wird nicht als Denken erkannt. Meist wird die Wahrnehmung mit den Sinnen als vollständige Erkenntnis betrachtet, als ob die Wahrnehmung auch bereits das Wissen enthalten würde. Wenn man jedoch das Wahrnehmen und das Begreifen betrachtet, können wir ,sehen’ lernen, dass wir in jeder Sekunde wachen Lebens unsere Wahrnehmung wirklich mit Denken erfüllen. Es ist ein Mangel an Aufmerksamkeit für den gesamten Prozess, ein Mangel an ,mindfulness’ für die inneren Prozesse, dass wir uns nicht bewusst sind, dass die Sinneswahrnehmung keine Bedeutung gibt und dass wir denken müssen, was die Wahrnehmung bedeutet.
Natürlich, wenn wir ganz in Gedanken versunken sind, die nichts mit der Wahrnehmung zu tun haben, dann fehlt uns unser Leben und das Leben der Menschen, die wir liebhaben. Aber wenn ich gedankenlos wahrnehme, dann fehlt mir genau dasselbe Leben und das Leben meiner geliebten Mitmenschen – weil ich nur ,anstarre’, ohne die Bedeutung zu erfassen.
Darum schrieb ich letzte Woche, dass wir die Hälfte der Welt verlieren, wenn wir uns des Denkens entspannt entledigen und die Dinge ruhig an uns vorbeigehen lassen, wenn auch mit Andacht. Die Seele hat zwei Seiten: Wahrnehmung mit den Sinnen und Wahrnehmen der Gedanken, die dazu gehören. Sinneswahrnehmung hält uns im Hier und Jetzt, hält uns im physischen Dasein.
Denken führt uns über das Hier und Jetzt hinaus, es trägt uns vom Augenblick zur Ewigkeit.
Auf Erden müssen wir sehr wohl im Moment sein. Aber wir müssen auch in jener Welt sein, aus der wir kommen und zu der wir wieder gehen werden. Als Mensch lebe ich auf Erden, aber mein wahres Wesen kommt irgendwo anders her und wird wieder dorthin gehen, wenn die Zeit gekommen sein wird. Wir dürften diese andere Welt nicht völlig vergessen haben. Sie ist noch immer da – im Denken, nicht in Gedanken.
Die Geschichte des Denkens: Die Schule von Athen (Raffael, um 1510, Stanza della Segnatura).
Was ist Denken? Von Mieke Mosmuller