In einem Kommentar auf den Text der vorigen Woche wurde die folgende Frage gestellt: Wahrnehmen des Denkens ist also das, was das Gleichgewicht zwischen Sinneswahrnehmung und gewöhnlichem Denken bringt. Gibt es eine Art und Weise, auf diese Weise im äußeren Leben aktiv zu sein? Also aktiv in äußeren Handlungen, wo die Wahrnehmung und das gewöhnliche Denken ein unvermeidlicher Teil des äußeren Beschäftigtseins mit allen möglichen Kleinigkeiten sind?
Ich werde versuchen, eine Art Antwort zu geben...
Wahrnehmen des Denkens bringt das Gleichgewicht, aber dies geschieht nur während der Meditation, wenn das Denken so stark wird, dass es wahrgenommen werden kann. Das geht nicht im gewöhnlichen Denken, da nehmen wir zwar den Inhalt wahr, wir wissen, was wir denken, aber wir nehmen nicht den Prozess des Denkens wahr. Dieser Prozess muss in der Meditation verstärkt werden, die Aktivität muss verstärkt werden, bis sie wahrnehmbar wird. Dies ist der Mittelweg, wie Steiner sagt:
,Man kann noch ein anderes tun, indem man das, was man denkt, innerlich so lebendig macht, so kraftvoll macht, daß man den eigenen Gedanken wie etwas Lebendiges vor sich hat und in ihn lebendig sich vertieft wie in etwas, was man draußen hört und sieht, so daß der eigene Gedanke so konkret wird wie das, was man hört oder sieht. Das ist ein mittlerer Zustand.’
Es ist also in der äußeren Handlung nicht ohne weiteres möglich, diesen Zustand zu erreichen, wenn wir nicht in der Meditation zu diesem Punkt gekommen sind. Ich weiß natürlich, dass hier immer Einwände gemacht werden, nämlich dass das alles viel zu schwer und kompliziert ist und dass es viel einfachere Wege gibt, ein Gleichgewicht zu erreichen. Ich bin natürlich mit solchen Einwänden nicht einverstanden. Es gibt sicher sehr viele Wege, um in Illusionen bezüglich einfacher Wege zum Himmel oder zur Erleuchtung zu leben. Sie sind im Internet zu finden. Aber ich betrachte diese als wirkliche Illusionen, basierend auf dem Prinzip, dass der Teufel vom Menschen nicht gespürt wird, selbst wenn er ihn beim Kragen hat...
Wie können wir also eine Aktivität im äußeren Leben entwickeln, die uns diesen Gleichgewichtszustand der Wahrnehmung und des Denkens bringt?
Wir können unsere in der Meditation erreichte starke Denkkraft in das äußere aktive Leben hineintragen und sie auf die Wahrnehmung lenken. Alle Sinneswahrnehmungen sind in Wirklichkeit eine andere Form des Gedankens, sie sind überhaupt nicht verschieden davon, das scheint nur so. Unser starkes Denken wird die Sinneswahrnehmung erreichen und durchdringen und die Nähe der Außenwelt entdecken, die für gewöhnlich so weit vom Denken entfernt zu sein scheint. Doch das verlangt eine aufmerksame Wahrnehmung und ein aufmerksames Denken.
Wenn wir handeln, ist es möglich, unser starkes Denkleben mit der Handlung zu vereinigen. Wir werden viel über uns selbst entdecken und kommen zu einer immer tiefer werdenden Selbsterkenntnis.
Weil dann das Denken so aktiv und stark geworden ist, dass es wahrgenommen werden kann, auch im gewöhnlichen aktiven Leben, ist die Sinneswahrnehmung intensiv mit diesem aktiven Denken durchwoben – und also im Gleichgewicht. Wahrnehmung ist durchdacht, Denken ist wahrgenommen.
Ohne Übung in der Meditation jedoch sehe ich keine Möglichkeit, ein direktes Gleichgewicht im äußeren Leben zu finden. Es gibt Menschen, die mit einem inneren Gleichgewicht begabt sind; andere müssen es aktiv zustande bringen. Aber auch die begabten Menschen verlieren das Gleichgewicht im Laufe ihres Lebens, wegen eines Mangels an Gleichgewicht in der Umgebung. Dieser Mangel wird größer und größer, je mehr Zeit vergeht.
Bild aus dem Science-Fiction-Film ,Prometheus’. In diesem Chaos verschiedenster Wirkungen leben wir bereits.
Wie können wir in der Welt, wie sie ist, im Gleichgewicht leben? Von Mieke Mosmuller